Archiv des Autors: Lisa Tralci

Nahaufnahmen

In Tagen, in denen frau völlig ausfransen könnte ob all den Meldungen, Eindrücken, Befürchtungen, Mutmassungen, Ängsten und wenig Hoffnungsvollem (welches Departement ist für Hoffnung zuständig?) – nun, an solchen Tagen Bilder ohne weitere Worte.

Dieses Bild hat eine Nachgeschichte, die Rehfreundin wartet noch auf eine Antwort…

Trotz-dem zum Dreissigsten

Zwischen dem zwanzigsten und dem fünfundzwanzigsten Tag war klar, dass mit dem dreissigsten Tag diese Mitteilungsform beendet wird. Dreissig Tage lang hat die Schreiberin winzig kleine Fenster in ihr Dasein geöffnet und Mitlesende Teil haben lassen an einem Monat, in dem einige Brocken zu verdauen waren, Arbeitstitel: Quarantäne plus.
Gestartet aus einer auf einem Hügelmarsch (den sie sich nicht nehmen lässt) geborenen Idee und der doch ziemlich hartnäckigen, persönlichen Gewissheit, dass Struktur gerade in Zeiten wie diesen hilft unabdingbar ist. Irgendwann im Laufe des Tages galt es, einen Entscheid zum Thema zu fällen, sich Gedanken zur Umsetzung zu machen und zwecks besserem Kennenlernen der neuen, etwas komplexeren Kamera vielleicht auch noch ein einigermassen passendes Bild zu machen.
Ein Thema wählen heisst auch, auf einen Stein zu sitzen und in die innere Befindlichkeit zu schauen. Um sich dann irgendwo einzumitten in diesem Geschehen, in dem es uns nach wie vor weitaus besser geht als den meisten anderen Menschen. Was nicht bedeutet, das Angst, Wut, Unverständnis oder Sorge nicht trotzdem wuchern und sich zwischen oder über alles andere drängen. Gerade in solchen Momenten wurde der imaginäre Sitzplatz auf dem Stein wichtig. Ja, es gibt ein „ICH“, auch wenn ihm während dreissig Tagen lediglich ein indirekter Platz zugeteilt wurde – weil dieses „ICH“ keine bleibende Substanz hat und immer ein Teil von Allem ist.
Und: Der „Dreissigste“ hat im katholischen Kulturkreis eine besondere Bedeutung: etwa dreissig Tage nach einer Beerdigung* findet ein Gedenkgottesdienst statt – nach der ersten, intensiven Trauerzeit eine Gelegenheit, nochmals zusammen zu kommen und des/der Verstorbenen zu gedenken. Vielleicht das Schlimmste vorbei – sagt die Hoffnung und für die Schreibende der Moment, um sich zurück zu ziehen und dieses Fenster zu schliessen.
In diesem Sinne: ALLEN viel Gutes, Mut und Zähigkeit.
* Bedrückend, was aktuell in Sachen palliativer Nichtbegleitung/Sterben/Abschied und Beerdigung geschieht bzw. nicht geschehen kann.

Trotz-dem zum Neunundzwanzigsten

Mit dem Bielefelder Huhn wünsche ich allen, die hier mitlesen, gute Osterzeit. Sie vielleicht nicht in der gewohnten Art feiern zu können, wirft Gewohnheiten und „Traditionen“ über den Haufen. Das bietet neuen Formen, anderen Gedanken – auch der Stille und Ruhe – die Möglichkeit, sich zu zeigen. Im Garten unserer persönlichen Möglichkeiten wetteifern Wunschsaat und Mitkräuter. Was soll ans Licht, was gelebt werden? Wo wurzelt, was immer wieder Unruhe, Missbehagen oder Schmerz bereitet? Zeit vielleicht, mehr Selbstverantwortung zu übernehmen UND unsere Selbstwirksamkeit zu erkennen.
Nichts, was sich über Ostern erledigen lässt. Auch nicht in dreissig Tagen oder einem Jahr. Jetzt gerade bietet sich Gelegenheit, immer mal wieder Distanz zu nehmen und zu fragen, was da genau geschieht. Nicht nur hier, wo vielleicht das Wunschmehl grad mal nicht erhältlich ist.
In diesem Sinne wünsche ich Leitsterne (die Göttinnen mögen die Schreibende vor LeitBILDERN beschützen!), Wegweiser, Urkraft, Entschlossenheit und den Mut, eigen zu werden und zu sein.
Ergänzend sei dieser Text angefügt.

Trotz-dem zum Achtundzwanzigsten

Bitte

von Hilde Domin

Wir werden eingetaucht
und mit den Wassern der Sintflut gewaschen
Wir werden durchnässt
bis auf die Herzhaut

Der Wunsch nach der Landschaft
diesseits der Tränengrenze
taugt nicht
der Wunsch den Blütenfrühling zu halten
der Wunsch verschont zu bleiben
taugt nicht

Es taugt die Bitte
dass bei Sonnenaufgang die Taube
den Zweig vom Ölbaum bringe
dass die Frucht so bunt wie die Blume sei
dass noch die Blätter der Rose am Boden
eine leuchtende Krone bilden 

und dass wir aus der Flut
dass wir aus der Löwengrube und dem feurigen Ofen
immer versehrter und immer heiler
stets von neuem
zu uns selbst
entlassen werden.  

Hilde Domin, Bitte.
Aus: dies., Gesammelte Gedichte.
Copyright: S.Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1987

Trotz-dem zum Fünfundzwanzigsten

Für Uneingeweihte: das ist eine namenlose Kartoffel mit Keim. Was für ein Graus waren der Gärtnerin diese langen, ineinander verkeilten Keime der Kartoffeln im dunklen Teil des Kellers. Da sie sich als Kind nur laut singend in den Keller wagte und als Älteste dieses Los oft zugeteilt bekam, weil die Butter zu holen war (einen Kühlschrank gabs erst später), weil eben Kartoffeln, Äpfel oder ein Glas mit eingemachten Zwetschgen benötigt wurden. Aber heute ist nicht die Zeit für Kindergeschichten.
Dem Kartoffelkeim wohnt eine Hoffnung inne. Nämlich die, dass er sich – in die Erde versenkt – vervielfache und neue Erdäpfel wachsen. Hoffnung ist eine Regung, die Kraft geben kann. In Ferne und Nähe offenbart die C-Zeit Sorgen und Not. Das Daheimbleibenmüssen wird für Viele zur Qual, Ängste nehmen zu, finanzielle Probleme wohl auch und nicht alle werden so locker aus Bern abgefedert. Menschen, die bereits zuvor mehr schlecht als recht leben konnten, sind einmal mehr die grossen Verlierer. Weltweit.
Die schreibende Gärtnerin ist eine zweifelnde Optimistin. Fast immer bereit, doch noch zu hoffen. Allen gegenläufigen Erlebnissen zum Trotz. Nein, an einen wirklichen Kurswechsel glaubt sie nicht, immer bereit, das Gegenteil zu erleben (nicht nur, weil sie Nonna ist!). Vielleicht ergibt sich eine neue Optik in einzelnen Bereichen: Unabhängigkeit bei Medikamenten, Schutzmasken und anderen wichtigen Gütern. Ein höherer Eigenvorsorgungsgrad in Bezug auf Lebensmittel. Wertschätzung saisonaler, regionaler und ausbeutungsfreier Produkte. Wahrhaftige und nachhaltige Besserstellung der Pflegenden und der Care-Arbeit und damit verbunden mehr Zeit, Achtung und Respekt allen Menschen gegenüber, v.a. aber allen Schutzbedürftigen. Und noch einiges mehr … nur das noch: die Hoffnung, dass nach der Lockerung der Massnahmen nicht Nachholbedürfnis und hemmungslose Gier einziehen. Dass vielleicht etwas vom Nachdenken, Innehalten, Verzichten und einer anderen Sicht bleibt.
Hier der Schlusspunkt für heute, etwas Hoffnung, etwas Klarheit und andere Perspektiven.

Trotz-dem zum Vierundzwanzigsten

Vor wenigen Tagen, es war in der Mitte des Nachmittags, trat die Gärtnerin aus dem Haus. Zwei Meter vor ihr stand ein Reh. Beide erschraken und blieben für eben diese Schrecksekunde wie angewurzelt stehen. Dann machte sich das Reh davon, quer durch den Garten. Dazu ist zu sagen, das Rehe Lieblingstiere der Gärtnerin sind. So unerwartet. So nah.
Die Sache hat eine Kehrseite. Bereits Tage zuvor hatte sie sich über am Boden liegende, halbierte Tulpenblätter gewundert. An den Specht, der das am Haus befestigte Wildbienenhotel ausnimmt und dabei alle Röhrchen kreuz und quer herumliegen lässt, hat sie sich gewöhnt. Aber Tulpenblätter..?! Die aufgefundenen Losungen bewiesen, dass das Reh bereits öfters im Garten gewesen war. Und ein Kontrollblick in den Blumentrog neben der Eingangstüre zeigte, woher die Tulpenblätter stammten. Rehe scheinen knackige Tulpenblütenknospen zu mögen. Genau so wie vor einigen Jahren Rosenknospen und Lattiche.
Zeit, dass die Gärtner „markieren“ …

Trotz-dem zum Dreiundzwanzigsten

Der Bub ist elf. Zum Glück darf er derzeit mit seinem Bruder und zwei anderen Kindern in den Wald. Letzte Woche war er bereits dort, er mag es, zu graben, Steine umzukehren, genauer hinzuschauen. Und so kam es, dass er auf obigen Schädel stiess. Was den andern Kindern ein lautes „wäääh“ entlockte, faszinierte ihn. Er grub den Schädel (vermutlich Fuchs) ganz aus, zog seine Mütze ab und legte den Schädel hinein, um ihn so nach Hause zu tragen. Mit dem Schädel in der Mütze stand er hin und verkündete: „Meine Grossmutter sammelt Totenschädel!“.
Die Schreibende hat die Gesichter der KInder nicht gesehen. Den Schädel aber hat der (sehr vermisste, ach diese Zeiten) Enkel in den Milchkasten (400 m vom Haus entfernt) gelegt. Jetzt liegt der Schädel hier an der Sonne.
Nein, eigentlich sammelt sie gar keine Totenschädel. Im Garten liegen zwei, mehr zufällig fanden sie den Weg dorthin. So wie ein paar Hörner. EIn Rehgeweih. Eine Zahnreihe. Wer weiss, was noch kommt.

Georgia O'Keeffe on the portal, Ghost Ranch, New Mexico, 1964. By Todd Webb
Sie hat wohl mehr Fundstücke: Georgia O’Keeffe in ihrem Atelier in New Mexiko


Trotz-dem zum Zweiundzwanzigsten

Eigentlich wäre heute eine andere „Geschichte“ vorgesehen gewesen… doch eine heute erlebte Geste MUSS zwingend erwähnt werden. Sie ist verbunden mit der aktuellen Situation. Die schreibende Leserin hatte via Mail Bücher bestellt und zwar in der schönsten Buchhandlung der Schweiz. Sie hatte darum gebeten, das Paket so klein wie möglich zu machen, damit es dann im so genannten Milchkasten Platz fände und ein Abholbesuch bei der Post vermieden werden könne. Heute nun, an diesem frühlingshaften Sonnentag – der Gärtner und die Gärtnerin waren wo eben diese Gattung zu dieser Jahreszeit ist – wurde ein Rufen hörbar. Sichtbar wurde die Inhaberin der kleinen feinen Buchhandlung, welche die Bücher höchtspersönlich vorbei brachte. Unglaublich! Mit der nötigen Distanz überreichte sie die Büchertasche, die Leserin traute ihren Augen kaum. Damit ich sie sicher nicht holen müsse und weil sie sowieso einen Spaziergang mache… Hei! Wenn das nicht ein superlieberkundenbindender Akt ist….