Archiv des Autors: Lisa Tralci

Das höchste Gut ist Eigenzeit

Artikel erschienen im Wendekreis 11/2010, Schwerpunktthema 50 plus

 

Jenseits der Mitte

Das höchste Gut ist Eigenzeit

Die Autorin Lisa Tralci schreibt über ein Alter, das von Leben bereits gezeichnet ist und genau deshalb immer mehr dem für sie Wesentlichen zustrebt.

Plötzlich ist es da, dieses Gefühl in der Mitte eines Nachmittags. Nicht mehr jung, noch nicht alt. Irgendwo dazwischen, im Niemandsland. Ohne Karte, ohne Kompass. Dort, fast schon am Horizont, ein Paar. Das Blondhaar der Mutter und der Mann, der mein Vater ist. Das rechte Bein, das er ganz leicht nachzieht. Ich drehe mich. Aus dem Brunnen steigt ein klarer, grasiger Geruch in meine Nase. Auf der Wasserhaut erscheint das Gesicht meines Enkels. Ich stehe zwischen dem alten Paar und dem Kind. Nicht mehr jung, noch nicht alt.

Dazwischen stehen. In der zweitvordersten Reihe.

Es ist abzusehen, dass ich in der vordersten Reihe Platz nehme.

Hinter mir mehr als fünfzig Lebensjahre. Ich zucke zusammen. Sie fühlen sich an wie ein Windhauch. Und doch weiss ich, es gab Jahre mit fünfzig Monaten. Jetzt sind sechshundertsiebenunddreissig Monate meines Lebens vorbei.

Die Mitte des Lebens überschritten. Die Jungvögel sind ausgeflogen, haben eigene Nester und beeltern nun ihre Nachkommen. Nachts ist mein Herz laut, und die Kopfbilder verscheuchen den Schlaf. Morgens decke ich Augenringe ab und lächle. Meine Haut ist meist zu dünn und das Augenwasser wohnt jetzt nah am Lidrand. Ich taumle zwischen was noch und was nicht mehr. Im Beruf begegnen mir Menschen im dritten und vierten Lebensalter. Sichtbare Verdichtungen von Leben. Ihre Deutlichkeit fegt meine Illusionen beiseite. Die längere Zeit liegt hinter mir und die Pfade vor mir fransen aus. Nein, weder Prinzen noch Götter werden für mich tätig sein. Meine eigenen Hände setzen die Herbstblumen. Das Licht der Sonne und ein gütiges Schicksal erbitte ich mir dazu. Die Beikräuter wachsen von alleine.

Leib und Seele äussern ihre Schmerzstellen deutlicher. Eine langjährige Beziehung die zunehmend Kraft nahm, statt solche zu schenken, ist beendet. Der Schritt aus ihr hinaus ein Schritt ins Ungewisse. Den neuen Holztisch habe ich für mich fertigen lassen und ihn mit dem eigenen Geld bezahlt. Für mich selber sorgen und Sorge tragen zu mir. Eigene Räume gestalten: jene im Aussen und die inneren. Ich versuche eine Lebensgestaltung, die Ressourcen schont und vermeide allzu viel Ballast und Fremdbestimmung. Das höchste Gut ist Eigenzeit. Der Verzicht auf zuviel angestelltes Dasein schenkt Autonomie und fordert Mass halten.

In der Mittezeit mag das Sehvermögen nachlassen, die Tiefensicht jedoch wird klarer. Der eigene Keimling drängt ans Licht, schält und windet sich aus Tradiertem. Ich trage alte Geschichten – auch ein Erbe – weiter und bin aufgerufen, diese im Lichte meiner Zeit zu beäugen. So pflege ich Wundstellen und betone Preziosen. Schabe an Ungeliebtem und versuche, zu verstehen. Es wird Zeit, mich zu versöhnen. Kein undifferenziertes Nicken. Ein «Ja» zu Gewesenem und zum Gewachsenen. Zum Gelingen und zum Unvermögen. Und ein gutes „Ja“ zu mir. Versöhnung ist ein langsames Geschehen. Nicht jetzt mit ihrer Einübung zu beginnen, wäre ungeschickt. Das Bitterkraut ist gekaut.

Den Gott meiner Kindheit gibt es nicht mehr. Jenseits personaler Imaginationen ist die Sehnsucht nach Antworten, nach Seelengeistnahrung, wach geblieben. Befreit von gegebenen Zugehörigkeiten versuche ich, meine Lebenswelten in eine Ordnung zu fügen. Eine, die verantwortlich und mitmenschlich ist, auch Tieren und der Natur gegenüber. Demut gefällt mir. Als Wort und als Haltung. Nur mein ICH ist manchmal störrisch …

Es mögen die angehäuften Jahre sein, die Umgebung, alte Samen, die nun keimen: mein erdiges Herz freut sich an den Blumen, am Garten, den Lärchen und Birken. Am Flug des Rotmilans und an den gehörnten Tieren rund herum. Es soll in Teilen Asiens Gelehrte geben, die sich ab gefühlter Lebensmitte aus dem Weltgetriebe zurückziehen und sich der Pflege von Chrysanthemen widmen. Ich will im Licht, in der Welt und im Leben bleiben – in der mein Garten eine meiner Sonnen ist. So wie Klang und Wort. Stille und Rückzug. Bewegte Bilder und fremde Städte. Meine Familie und die Tigerkatze Frida. Und der, dem meine Liebe zuwächst.

So will ich weilen, gut mit den Dingen verwoben und doch so, dass ich mich auch wieder lösen kann. Den feinen Riss in meinem Lebensgebälk hab ich gesehen.

Lisa Tralci

 

 

Artikel im Wendekreis 50 plus

Der folgende Artikel erschien im Wendekreis 11/2010, Schwerpunktthema 50 plus

Jenseits der Mitte

Das höchste Gut ist Eigenzeit

Die Autorin Lisa Tralci schreibt über ein Alter, das von Leben bereits gezeichnet ist und genau deshalb immer mehr dem für sie Wesentlichen zustrebt.

Plötzlich ist es da, dieses Gefühl in der Mitte eines Nachmittags. Nicht mehr jung, noch nicht alt. Irgendwo dazwischen, im Niemandsland. Ohne Karte, ohne Kompass. Dort, fast schon am Horizont, ein Paar. Das Blondhaar der Mutter und der Mann, der mein Vater ist. Das rechte Bein, das er ganz leicht nachzieht. Ich drehe mich. Aus dem Brunnen steigt ein klarer, grasiger Geruch in meine Nase. Auf der Wasserhaut erscheint das Gesicht meines Enkels. Ich stehe zwischen dem alten Paar und dem Kind. Nicht mehr jung, noch nicht alt.

Dazwischen stehen. In der zweitvordersten Reihe.

Es ist abzusehen, dass ich in der vordersten Reihe Platz nehme.

Hinter mir mehr als fünfzig Lebensjahre. Ich zucke zusammen. Sie fühlen sich an wie ein Windhauch. Und doch weiss ich, es gab Jahre mit fünfzig Monaten. Jetzt sind sechshundertsiebenunddreissig Monate meines Lebens vorbei.

Die Mitte des Lebens überschritten. Die Jungvögel sind ausgeflogen, haben eigene Nester und beeltern nun ihre Nachkommen. Nachts ist mein Herz laut, und die Kopfbilder verscheuchen den Schlaf. Morgens decke ich Augenringe ab und lächle. Meine Haut ist meist zu dünn und das Augenwasser wohnt jetzt nah am Lidrand. Ich taumle zwischen was noch und was nicht mehr. Im Beruf begegnen mir Menschen im dritten und vierten Lebensalter. Sichtbare Verdichtungen von Leben. Ihre Deutlichkeit fegt meine Illusionen beiseite. Die längere Zeit liegt hinter mir und die Pfade vor mir fransen aus. Nein, weder Prinzen noch Götter werden für mich tätig sein. Meine eigenen Hände setzen die Herbstblumen. Das Licht der Sonne und ein gütiges Schicksal erbitte ich mir dazu. Die Beikräuter wachsen von alleine.

Leib und Seele äussern ihre Schmerzstellen deutlicher. Eine langjährige Beziehung die zunehmend Kraft nahm, statt solche zu schenken, ist beendet. Der Schritt aus ihr hinaus ein Schritt ins Ungewisse. Den neuen Holztisch habe ich für mich fertigen lassen und ihn mit dem eigenen Geld bezahlt. Für mich selber sorgen und Sorge tragen zu mir. Eigene Räume gestalten: jene im Aussen und die inneren. Ich versuche eine Lebensgestaltung, die Ressourcen schont und vermeide allzu viel Ballast und Fremdbestimmung. Das höchste Gut ist Eigenzeit. Der Verzicht auf zuviel angestelltes Dasein schenkt Autonomie und fordert Mass halten.

In der Mittezeit mag das Sehvermögen nachlassen, die Tiefensicht jedoch wird klarer. Der eigene Keimling drängt ans Licht, schält und windet sich aus Tradiertem. Ich trage alte Geschichten – auch ein Erbe – weiter und bin aufgerufen, diese im Lichte meiner Zeit zu beäugen. So pflege ich Wundstellen und betone Preziosen. Schabe an Ungeliebtem und versuche, zu verstehen. Es wird Zeit, mich zu versöhnen. Kein undifferenziertes Nicken. Ein «Ja» zu Gewesenem und zum Gewachsenen. Zum Gelingen und zum Unvermögen. Und ein gutes „Ja“ zu mir. Versöhnung ist ein langsames Geschehen. Nicht jetzt mit ihrer Einübung zu beginnen, wäre ungeschickt. Das Bitterkraut ist gekaut.

Den Gott meiner Kindheit gibt es nicht mehr. Jenseits personaler Imaginationen ist die Sehnsucht nach Antworten, nach Seelengeistnahrung, wach geblieben. Befreit von gegebenen Zugehörigkeiten versuche ich, meine Lebenswelten in eine Ordnung zu fügen. Eine, die verantwortlich und mitmenschlich ist, auch Tieren und der Natur gegenüber. Demut gefällt mir. Als Wort und als Haltung. Nur mein ICH ist manchmal störrisch …

Es mögen die angehäuften Jahre sein, die Umgebung, alte Samen, die nun keimen: mein erdiges Herz freut sich an den Blumen, am Garten, den Lärchen und Birken. Am Flug des Rotmilans und an den gehörnten Tieren rund herum. Es soll in Teilen Asiens Gelehrte geben, die sich ab gefühlter Lebensmitte aus dem Weltgetriebe zurückziehen und sich der Pflege von Chrysanthemen widmen. Ich will im Licht, in der Welt und im Leben bleiben – in der mein Garten eine meiner Sonnen ist. So wie Klang und Wort. Stille und Rückzug. Bewegte Bilder und fremde Städte. Meine Familie und die Tigerkatze Frida. Und der, dem meine Liebe zuwächst.

So will ich weilen, gut mit den Dingen verwoben und doch so, dass ich mich auch wieder lösen kann. Den feinen Riss in meinem Lebensgebälk hab ich gesehen.

Lisa Tralci

 

 

 

ARGAblog: Kein TV

Ich vermute, diese kleinen Kommunikationshilfen – Handy oder Mobile – haben einen eingebauten Selbstzerstörungsmodus. Kaum haben wir uns wirklich aneinander gewöhnt, muckt es auf. Das Verhalten meines Gerätes liess den Besuch eines entsprechenden Shops als ratsam erscheinen. Mir war, als spreche der gestylte junge Mann bereits etwas lauter und langsamer und als ich meine Wünsche in Bezug auf ein neues Gerät äusserte (es waren wenige – – Funktionalität und geringe Kosten vor coolem Design und tausend Möglichkeiten, die ich nicht benötige —) wurde sein Blick mitleidig und seine Antworten knapp. Wenn Sie nicht mehr brauchen, haben wir keine grosse Auswahl! Mindestens zweihundertvierzig Franken müssen Sie in jedem Falle ausgeben. Unbeirrt frage ich nach dem Treueangebot. Aha, das was ich Ihnen biete ist eben das Treueangebot. Das Mobile würde sonst glatt das Doppelte kosten – wenn Sie weitere 24 Monate bei uns bleiben, schenken wir Ihnen…. ich höre schon gar nicht mehr richtig zu und verabschiede mich.
Heute Versuch zwei: ich spreche die Litanei meiner Wünsche, der Berater im Shop zwei meint, wunderbar – wenn nur alle Kunden so klar wüssten, was sie wollen und nein, das rosa Angebot taugt nicht, weil Sie zu abgelegen wohnen, Sie haben ja nicht einmal die maximal schnelle Internetverbindung… meine Netzverbindung ist schneller als jene die ich in der Stadt nutze aber eigentlich möchte ich ja ein mobiles Telefon… ja genau, meint er, für Sie hab ich ein Topangebot. Angebot XY, das TV-Angebot, da ist auch das Mobile drin, Sie bekommen ein Paket und ein Kästchen, packen Sie es am besten gar nicht aus und nach zwei Monaten bringen Sie es mir einfach in den Shop und das Ganze kostet Sie nichts und ich geb Ihnen das Handy dazu. NEIN, kein TV! Kein TV??? Kein TV… Aha. Macht nichts. Guten Abend.

ARGAblog: Aussteigen

Zwei Reisende fahren in einem Zug. An der ersten Station fängt der eine an zu jammern. Beim zweiten Bahnhof stöhnt er noch mehr. Beim dritten rennt er panisch durch den Zug. Fragt der andere: „Was jammerst du immer lauter von Bahnhof zu Bahnhof?“ „Mein Zug fährt in die falsche Richtung!“, kommt die Antwort. „Aber warum steigst du nicht aus und nimmst den richtigen Zug?“. „Ich habe doch einen guten Sitzplatz. Wer weiss, wann überhaupt ein Zug in die andere Richtung geht? Und wo ich doch jetzt schon so weit gefahren bin…“

Alle Welt ruft nach Veränderung. Doch Bewahrung ist ein Grundprinzip der Selbsterhaltung. Nur wenn es gar nicht mehr anders geht, verlassen wir eventuell die eingefahrenen Hauptstrassen – und wenn die Sehnsucht nach Nebenwegen übergross wird.

Quelle: Dieter Halbach in: Ankommen im Ausstieg. oya. anders denken, anders leben 02/2010

ARGAblog: Creuza de mä

 

Gehört und wieder gehört und noch hunderte Male mehr . . . das Album Creuza de mä des Cantautore Fabrizio de André (1940 – 1999). De Andre singt auf dieser CD im Dialekt seiner Heimatstadt Genua. Auch nach Jahren noch immer faszinierend: Sprachklang, Stimme und Instrumentalbesetzung mit u.a.Gitarre, Bouzouki, Mandoline und Oud. Hier wie in seinem ganzen Schaffen beeindrucken die bildreichen, mit Metaphern und Querverweisen angereicherten Texte. Sie erzählen von Menschen am Rande einer so genannt etablierten Gesellschaft, sind Umsetzungen von Lyrik oder behandeln politische und religiöse Themen.

Musik und Bild hier – mit der Möglichkeit, den Text in ital. Sprache nachzulesen …

 

ARGAblog: Das Geschenk der Mauren

 
 
Die Aubergine
 

 
Aus Indien und China stammend wurde die Aubergine im 13. Jahrhundert von den Mauren in den europäischen Raum gebracht. Inzwischen ist die wärmeliebende, Pflanze hierzulande „heimisch“. Sie wächst in verschiedenen Formen: länglich violett wie die abgebildeten ARGA-Auberginen, rund und weiss (deshalb wohl die oft verwendete Bezeichnung Eierfrucht), rund und violett mit weissen Streifen, sogar rote Exemplare sind bekannt.
Die ersten ARGA-Auberginen sind reif, weitere sind in den kommenden Tagen zu erwarten. Das erfreut das Herz der Gärtnerin, zumal in einschlägigen Büchern oft darauf hingewiesen wird, dass dieses wärmeliebende Nachtschattengewächs im Folien- oder Glashaus zu ziehen sei. Auch ein warmer Sommer wird als günstig erwähnt. Die ARGA-Aubergine steht vor einer Wand mit Nachmittagssonne, von einem besonders warmen Sommer würde ich eher nicht sprechen. Für diese Melanzani, wie sie in Österreich und Italien genannt werden, gibt es eine Vielzahl von Rezepten. Es lohnt sich, ihrer Zubereitung Aufmerksamkeit zu schenken und nicht mit Gewürzen und Kräutern zu geizen. In Israel soll es ein Sprichwort geben, nachdem eine Frau (ob es inzwischen auch für Männer gilt??) erst heiraten solle, wenn sie 40 verschiedene Speisen aus Auberginen zubereiten könne. Nun, ich persönlich würde diese beiden Dinge nicht verknüpfen, fürs Gelingen des doch nicht ganz einfachen Vorhabens einer Ehe leistet breites Rezeptwissen einen wohl eher marginalen Beitrag. Das Sprichwort sagt indessen etwas aus über die vielen möglichen Zubereitungsarten.

Auberginen sind in Indien eine der beliebtesten Gemüsepflanzen. Vor einem knappen Jahr hat die indische Regierung den Anbau von gentechnisch veränderten (GVO-)Auberginen bewilligt. Monsanto und Co. greifen nach Mais oder Soja auch bei dieser Pflanze ein, bzw. sie wittern ein gutes Geschäft durch zu schaffende Abhängigkeiten, was sie aber mit scheinheiligen Argumenten zu kaschieren suchen. Vertiefende Infos dazu hier.

Mein Freund der Baum

Beitrag anlässlich des Wettbewerbs „Der Baum“
ausgeschrieben vom
Kompetenzzentrum Gesundheit und Alter, St. Gallen 

Mein Freund der Baum

(nach dem gleichnamigen Lied von Alexandra)

Das Lied, das die Sängerin Alexandra im Jahre 1969 veröffentlicht hat, habe ich jahrzehntelange nicht mehr gehört und auch nicht daran gedacht. Als es damals aus dem mit braunem Holz verkleideten Radio erklang, war ich in einer Lebensphase, in der mich das Gefühl des Unverstandenseins und eine Art Weltschmerz aus der familiären Nestwärme hinaus in ein neues, unbekanntes Land trieben. Da war dieses Lied, vorgetragen mit einer dunklen, schwermütigen Stimme, da waren die Bäume, die um das Haus der Kindheit standen und da war ein Verlust, den zu benennen ich damals nicht im Stande gewesen wäre. Oft sass ich auf den besonnten Stufen vor dem Haus. Im Blick die Blautanne und neben ihr die Rottanne, die schon damals weit höher war als unser Haus und von der mein Vater sagte, dass sie aufgrund ihrer Höhe die Blitze vom Haus ableiten würde, was meine Kinderangst verscheuchte und den Baum zum schon fast magischen Schutzbaum werden liessen.

In den ausladenden Ästen dieser Tanne war die ihr eigene und von Wind und Wetter mitkomponierte Baummusik zu hören. Ein Raunen erst, dann tiefes Rauschen, das aus der Ferne zu kommen schien und sich im Baum auflud und anschwoll zum mächtigen Gebrause, um aus dem Baum hinaus und in mich hinein zu fahren. Wie lebendig da Cherubim und Seraphine und alle Erzengel auf ihren goldenen Wagen waren und wie klein und der Welt ausgesetzt sich das Menschlein fühlte, das im zu kurzen Sommerröckchen und barfuss dasass und so, ohne dass es diese Eindrücke hätte in Worte kleiden können, irgendwo in seinem Wesen begriff, dass in diesem Dasein das grosse Unbekannte mitspielt, immer da ist, kraftvoll, ungehalten, brausend.

Die Sommermusik war mir die liebste. Auch wenn kein Windhauch durch die Nadeln zu ziehen schien, war da dieses leichte, heitere Lied aus dem Fallen einzelner Nadeln, dem Sirren und Summen der Insekten, dem Knacken im Stamm und all das begleitet vom Harzgeruch, der mich bis heute nicht losgelassen hat und der mir mehr ist als alle künstlichen Stoffe der Duftindustrie. Es war, als würden die Sonnenstrahlen diesen Baumhoniggeruch noch verstärken und ich blähte meine Nasenflügel, um die Ausdünstungen des Baumes tief in meine Atemräume und damit in jede Zelle meines Leibes zu weisen.

Unter der Tanne lag ein rechteckiger, schwarzer Stein. Ein Grabstein. Auf dem Stein war ein Name in goldenen Lettern. An den Namen kann ich mich nicht mehr erinnern. Es muss jemand aus der väterlichen Ahnenlinie gewesen sein, der Ururgrossmutterstein vielleicht. Der Stein war nach der Grabräumung auf dem Friedhof unter diese Tanne gelegt worden und war auf der einen Seite mit Efeu überwachsen. Ich betrachtete diesen Stein oft mit leichtem Schaudern. Er war ein sichtbares Zeichen einer zwingenden Endlichkeit, die mir als damals Zwölf- oder Dreizehnjährige weiter weg war als Timbuktu oder die Osterinseln. Und doch, es war einer jener vielen Stacheln, die den Schritt aus der Kinderwelt in eine andere, unbekannte begleiteten. So wie ich als kleines Kind glauben wollte, dass die Erwachsenen wissend – allwissend – seien, so sehr litt in nun in dieser Ablösezeit am Eindruck, dass sie eben gar nichts wissen, nichts verstanden haben und mich schon gar nicht.

Und in dieser Zeit, als nicht nur mein Baum mein Freund hätte sein können, tauchte dieses Lied auf. Alexandra (seltsamerweise ist mein zweiter Taufname Alexandra, was eine andere Geschichte wäre), diese Namensschwester also sang dieses Lied, von dem ich mich angesprochen fühlte, weil da mein Schmerz des Nichtmehr und Nochnicht in Klang umgewandelt und so noch tiefer spürbar wurde. Ich war nicht mehr da-heim, da nicht und auch sonst nirgends. Meine Tanne war – im Gegensatz zu ihrem Baum – da, unbeirrbar, unbeeindruckt von den Wirren, die mich befallen hatten und hinaustrieben in eine Welt, deren Geografie mir niemand erklärt hatte.

Der junge Mann auf dem blauen Moped fuhr täglich vorbei. Ich hatte gespart und vom kargen Taschengeld ein Herz aus Schokolade und ein paar Fünfermocken gekauft. Das und dazu ein Briefchen, in dem ich ihn statt des Baumes als Freund ernannte, wollte ich ihm überreichen. Denn was da vom Bauch aus zwischen meinen Rippenbogen aufwärts kletterte und sich im Herzbeutel zu setzen schien, konnte ja nicht ein Geschehen ausschliesslich in meinem Innern sein. Später habe ich mich hinter der Tanne versteckt, wenn ich das Geräusch des Mopeds hörte. Drei Jahre jünger, hatte er gesagt. Und nein.

Ich bin weitergezogen, wurde getrieben und habe gedrängt, mich fallen lassen und aufgeschwungen, hüpfte und kroch, kenne Weinen und Lachen und noch ein paar Lebensstachel mehr. Das Lied von Alexandra habe ich wieder gehört. Die Tanne steht noch immer an ihrem Platz.

Lisa Alexandra Tralci

http://de.wikipedia.org/wiki/Alexandra_(S%C3%A4ngerin)

http://www.youtube.com/watch?v=Fvcv4C1CG6M

 

Lisa Alexandra Tralci
(MA Tagesklinik)
tralci@bluewin.ch

 

 

 

 

ARGAblog: Weltenmitte

ARGA liegt nicht an einer Autobahnausfahrt und auch nicht in einem Reiheneinfamilienhausquartier. Ebenso wenig im Speckgürtel Umland – auch Agglo genannt – einer Stadt. Und schon gar nicht mitten in einer City. Das Wort ARGA steht in der tuwinischen Sprache für Wald oder Lärche, liegt abseits und wer den Weg wagt, muss seine/ihre Füsse benutzen. Vor kurzem fand an der etwas entfernt liegenden Strasse eine Übergabe statt. Der Monteur fuhr (auf einer notabene gepflasterten Strasse) bis zum abgemachten Treffpunkt, etwa dreihundert Meter vom Haus entfernt. Dabei traversierte er vielleicht hundert Meter Wald, was ihn veranlasste, sich zu fragen, ob in dieser Gegend wirklich noch Menschen wohnen. Ich konnte ihn beruhigen und habe das Wolfsheulen bleiben lassen. Der Weg zum Haus führt über einen kleinen Hügel, auf dessen Kuppe sich bei entsprechendem Wetter eine umwerfende Rundumsicht bietet. Alpsteinpanorama, Fürstenland, zum Feldberg in Süddeutschland und über den Bodensee. Für mich gab es eine einzige Antwort: ich wohne ganz genau in der Mitte der Welt! Wie alle anderen auch meinen . . .

ARGAblog: Jisei

Was macht, dass ein Ort ein Zuhause (auf Zeit – wie wir wissen) wird? Wann fühle ich mich da-heim, da heimisch, zu Hause? Nach einem guten Jahr des parallel an zwei, manchmal gar an drei Orten lebens, sind die Dinge die mich begleiten und meine Alletage erleichtern, nun wieder an einem Ort. Noch haben nicht alle Bilder ihre Wand, nicht jede Socke ihre Schublade aber jedes Gewürzdöschen steht an seinem Platz! Und das sind nicht wenige…

Ich komme an, wenn ich durch das kleine Lärchenwäldchen gehe. Dieser Durchgang (ein Feldweg) wird zur hohen Kathedrale, durch die ich hindurch gehe – Räume, vor meiner Zeit entstanden und nach mir noch da. Ein beschützender Lärchensaum. Daheim fühle ich mich in dem Augenblick, in dem ich durch die Gartentüre trete und inmitten der Bäume und Pflanzen stehe, deren Wachsen ich seit über einem Jahr beobachte und teilweise auch beeinflusse. Im eingreifenden Tun und Betrachten von Werden, Sein und Vergehen innerhalb der Natur mit all ihren Facetten tritt das eigene ICH zurück, bietet sich Gelegenheit, die Geschehnisse aus einer gewissen Distanz wahrzunehmen und Kopf und Herz zu beruhigen. Die Vorgänge sind auch zu lesen als Synonyme der eigenen Biografie: lichthungriges Wachsen, buntes Blühen, Wasserschosse, unerwünschte Beikräuter, Rückzug und Wiederkehr – ab und zu an einem ganz anderen Ort als erwartet!

Auch wenn ich noch nicht an diesem Lebenspunkt bin, begreife ich die älteren asiatischen Gelehrten, die sich irgendwann aus der Geschäftigkeit des Lebens zurückziehen und sich der Pflege von Chrysanthemen widmen. Innerhalb der Haiku-Dichtung gibt es sogenannte Jisei – eine besondere lyrische Gattung. Jisei sind eine Art Sterbegedichte, Abschiedsgedichte. Gedichte, die von einem Sterbenden bewusst als poetisches Schlusswerk geschrieben wurden. So sorgte sich Kizan (1787 – 1851) sterbend um seinen Blumengarten:

Wenn ich nicht mehr bin,
kümmert sich dann einer um
die Chrysanthemen?

Etwas unverschrobener das Jisei von Utsu (1813-1863) – er schrieb

Für seine Pflanzen
wird der Blütenbesitzer
schliesslich zu Dünger.

Ich habe vor, noch ein paar Worte vor meinem Jisei zu notieren. . .