Artikel erschienen im Wendekreis 11/2010, Schwerpunktthema 50 plus
Jenseits der Mitte
Das höchste Gut ist Eigenzeit
Die Autorin Lisa Tralci schreibt über ein Alter, das von Leben bereits gezeichnet ist und genau deshalb immer mehr dem für sie Wesentlichen zustrebt.
Plötzlich ist es da, dieses Gefühl in der Mitte eines Nachmittags. Nicht mehr jung, noch nicht alt. Irgendwo dazwischen, im Niemandsland. Ohne Karte, ohne Kompass. Dort, fast schon am Horizont, ein Paar. Das Blondhaar der Mutter und der Mann, der mein Vater ist. Das rechte Bein, das er ganz leicht nachzieht. Ich drehe mich. Aus dem Brunnen steigt ein klarer, grasiger Geruch in meine Nase. Auf der Wasserhaut erscheint das Gesicht meines Enkels. Ich stehe zwischen dem alten Paar und dem Kind. Nicht mehr jung, noch nicht alt.
Dazwischen stehen. In der zweitvordersten Reihe.
Es ist abzusehen, dass ich in der vordersten Reihe Platz nehme.
Hinter mir mehr als fünfzig Lebensjahre. Ich zucke zusammen. Sie fühlen sich an wie ein Windhauch. Und doch weiss ich, es gab Jahre mit fünfzig Monaten. Jetzt sind sechshundertsiebenunddreissig Monate meines Lebens vorbei.
Die Mitte des Lebens überschritten. Die Jungvögel sind ausgeflogen, haben eigene Nester und beeltern nun ihre Nachkommen. Nachts ist mein Herz laut, und die Kopfbilder verscheuchen den Schlaf. Morgens decke ich Augenringe ab und lächle. Meine Haut ist meist zu dünn und das Augenwasser wohnt jetzt nah am Lidrand. Ich taumle zwischen was noch und was nicht mehr. Im Beruf begegnen mir Menschen im dritten und vierten Lebensalter. Sichtbare Verdichtungen von Leben. Ihre Deutlichkeit fegt meine Illusionen beiseite. Die längere Zeit liegt hinter mir und die Pfade vor mir fransen aus. Nein, weder Prinzen noch Götter werden für mich tätig sein. Meine eigenen Hände setzen die Herbstblumen. Das Licht der Sonne und ein gütiges Schicksal erbitte ich mir dazu. Die Beikräuter wachsen von alleine.
Leib und Seele äussern ihre Schmerzstellen deutlicher. Eine langjährige Beziehung die zunehmend Kraft nahm, statt solche zu schenken, ist beendet. Der Schritt aus ihr hinaus ein Schritt ins Ungewisse. Den neuen Holztisch habe ich für mich fertigen lassen und ihn mit dem eigenen Geld bezahlt. Für mich selber sorgen und Sorge tragen zu mir. Eigene Räume gestalten: jene im Aussen und die inneren. Ich versuche eine Lebensgestaltung, die Ressourcen schont und vermeide allzu viel Ballast und Fremdbestimmung. Das höchste Gut ist Eigenzeit. Der Verzicht auf zuviel angestelltes Dasein schenkt Autonomie und fordert Mass halten.
In der Mittezeit mag das Sehvermögen nachlassen, die Tiefensicht jedoch wird klarer. Der eigene Keimling drängt ans Licht, schält und windet sich aus Tradiertem. Ich trage alte Geschichten – auch ein Erbe – weiter und bin aufgerufen, diese im Lichte meiner Zeit zu beäugen. So pflege ich Wundstellen und betone Preziosen. Schabe an Ungeliebtem und versuche, zu verstehen. Es wird Zeit, mich zu versöhnen. Kein undifferenziertes Nicken. Ein «Ja» zu Gewesenem und zum Gewachsenen. Zum Gelingen und zum Unvermögen. Und ein gutes „Ja“ zu mir. Versöhnung ist ein langsames Geschehen. Nicht jetzt mit ihrer Einübung zu beginnen, wäre ungeschickt. Das Bitterkraut ist gekaut.
Den Gott meiner Kindheit gibt es nicht mehr. Jenseits personaler Imaginationen ist die Sehnsucht nach Antworten, nach Seelengeistnahrung, wach geblieben. Befreit von gegebenen Zugehörigkeiten versuche ich, meine Lebenswelten in eine Ordnung zu fügen. Eine, die verantwortlich und mitmenschlich ist, auch Tieren und der Natur gegenüber. Demut gefällt mir. Als Wort und als Haltung. Nur mein ICH ist manchmal störrisch …
Es mögen die angehäuften Jahre sein, die Umgebung, alte Samen, die nun keimen: mein erdiges Herz freut sich an den Blumen, am Garten, den Lärchen und Birken. Am Flug des Rotmilans und an den gehörnten Tieren rund herum. Es soll in Teilen Asiens Gelehrte geben, die sich ab gefühlter Lebensmitte aus dem Weltgetriebe zurückziehen und sich der Pflege von Chrysanthemen widmen. Ich will im Licht, in der Welt und im Leben bleiben – in der mein Garten eine meiner Sonnen ist. So wie Klang und Wort. Stille und Rückzug. Bewegte Bilder und fremde Städte. Meine Familie und die Tigerkatze Frida. Und der, dem meine Liebe zuwächst.
So will ich weilen, gut mit den Dingen verwoben und doch so, dass ich mich auch wieder lösen kann. Den feinen Riss in meinem Lebensgebälk hab ich gesehen.
Lisa Tralci