Archiv der Kategorie: Eigene Texte

Wendezeit, bitte!

Gute drei Jahrzehnte bewegt sich die Schreiberin auch im sozialen und pflegerischen Bereich: direkt handelnd oder schreibend. Weder die konkreten Arbeitswelten noch die darin gemachten Erfahrungen sollen Thema sein (sie würden den Rahmen dieser Notizen bei Weitem sprengen…). Ich schreibe auch nicht über scheinbar manipulierte Fallpauschalen oder die jährlichen Prämienerhöhungen. Vielmehr verstärkt sich in den letzten Jahren der Eindruck, dass dem Gesundheitswesen (damit meine ich alle Bereiche, mit denen ein sich unwohl fühlender Mensch in Kontakt kommen kann) zuviel aufgebürdet wird, bzw. dass das Gesundheitswesen auch Ersatz für andernorts Verlorenes geworden ist. Ich denke dabei an die verschiedensten Orte, die vielen heutigen Menschen scheinbar abhanden gekommen sind: soziales Eingebundensein in Familien, Nachbarschaft, Gemeinden; religiöse oder spirituelle Heimat; sinnstiftende Modelle/Deutungen für das Leben und vor allem für das Alter.
Fehlen solche Bezüge (und sie fehlen oft, dies wage ich aus meiner Erfahrung und ohne wissenschaftliche Untersuchungen zu sagen), werden sie gesucht. Weil der Mensch ein soziales Wesen ist, Sinn sucht und immer wieder auch Leid- und Verlusterfahrungen machen wird und diese „verorten“ muss.  Jung, gesund, erfolgreich und leistungsfähig, mit einem ausgeprägten Glauben an ein festes „ICH“ und einer guten Portion Selbstbewusstsein wird gestartet – im besten Falle. Früher oder später kratzt das Leben die eine oder andere Narbe und die Surrogate der verschiedensten Events „beruhigen“ selten für längere Zeit. In den glatten Oberflächen menschlichen Daseins bilden sich kleine Ritzen und ihnen entwachsen Pflanzen mit eigenartigen Namen: Zukunftsangst, Todesfurcht, Sinnkrise, Heimatlosigkeit, Alleinsein, Einsamkeit und einige mehr. Ein Glück wenn die Reflektionsfähigkeiten intakt sind und den Dingen auf den Grund gegangen werden kann – überhaupt nicht selbstverständlich und auch nicht immer leicht. Ohne diese Innenschau bleiben das Unbehagen, die existentiellen Fragen des Lebens oder die Lebensängste ein diffuses, form- und namenloses Unwohlsein, das sich in den Körper schleicht und sich hier oder dort bemerkbar macht. Als Wehweh, Zipperlein, Erkrankung oder einfach als generelles Missbehagen, Negativität, Passivität oder Lethargie. Ja: Krankheit, Verlust und Leiden gehören zum Leben – – – In meinem Arbeits- und Lebensumfeld erfahre ich, dass v.a. bei älter werdenden Menschen viele solcher Teile da sind, unverstandene, nicht einzuordnende Geschehnisse, Trauer etc. . Und was geschieht? Diese Anteile müssen mühsam unterdrückt werden, dürfen oder können nicht ans Licht; es gibt keinen Raum für die wirklich wichtigen Lebensfragen oder einen anderen Umgang mit Sterben und Tod. Weil all das nach wie vor da ist – ungelöst – bekomme ich Angst, kann nicht mehr schlafen, werde depressiv, mag nicht mehr essen oder habe diffuse, nicht behandelbare Schmerzen.  Das Gesundheitswesen bzw. ihre Exponenten sind überfordert bzw. haben weder Raum noch Möglichkeiten noch Kenntnisse, um an die Wurzel zu gelangen. Was bleibt? Sehr oft Symptombekämpfung mit unheilvollen Wechselwirkungen (Medikamente, Eingriffe, Ärztetourimus etc.)  – und der Mensch ist nach wie vor gefangen in seinen Schwierigkeiten.
Gerade weil Sinnfragen, Krankheit, Suchen nach lebenswerten Modellen, Eingebettetsein etc. zu den urmenschlichen Erfahrungen gehört, sind oder wären erklärende, sinnmachende und vor allem unterstützende Deutungen/Einordnungen so notwendig. Dabei kann es durchaus verschiedene Wege und Zugänge geben: Analogien in der Natur, philosophisch-spirituelle Erklärungen, biografisch-generationenbezogene Modelle, religiöse Begleitung, psychologische Erklärungen etc.. Weil so genannt „alte“ Rituale, Vertrauenspersonen, die Kirche als Zuflucht oder die sorgende Gemeinde/Nachbarschaft nicht mehr immer da sind, werden solche Bedürfnisse ins weite Gebiet des Gesundheitswesens getragen. Mit aus meiner Sicht unguten Entwicklungen: die suchenden Menschen sind enttäuscht; die Kosten können steigen; die darin Tätigen sind frustiert und ernüchtert, weil sie Bedürfnisse wahrnehmen und sie nicht erfüllen können – dem Gesundheitswesen wird etwas zugemutet, was es mit den heutigen Möglichkeiten nicht beantworten kann.
Wie könnte eine zukunftsfähige, hilfreiche Lösung aussehen? Vermutlich wären es Veränderungen auf verschiedenen Gebieten: edukative Aspekte, Innenweltpflege schon als Schulfach; unterstützende (nicht wertende!) Familienpolitik; verträgliche Verbindungen von Leben und Arbeit; lebendige Spiritualität, Ethik etc. UND: das Gesundheitswesen bräuchte eine Ausweitung, die den (noch) an sie herangetragenen Bedürfnissen einigermassen Rechnung tragen könnte – nebst Spitzenmedizin auch Seelenmedizin, als abrechenbare Einheit, auf dass künftige Generationen früher gesund sein dürfen, gesund an Körper, Geist und Seele.

Mein Freund der Baum

Beitrag anlässlich des Wettbewerbs „Der Baum“
ausgeschrieben vom
Kompetenzzentrum Gesundheit und Alter, St. Gallen 

Mein Freund der Baum

(nach dem gleichnamigen Lied von Alexandra)

Das Lied, das die Sängerin Alexandra im Jahre 1969 veröffentlicht hat, habe ich jahrzehntelange nicht mehr gehört und auch nicht daran gedacht. Als es damals aus dem mit braunem Holz verkleideten Radio erklang, war ich in einer Lebensphase, in der mich das Gefühl des Unverstandenseins und eine Art Weltschmerz aus der familiären Nestwärme hinaus in ein neues, unbekanntes Land trieben. Da war dieses Lied, vorgetragen mit einer dunklen, schwermütigen Stimme, da waren die Bäume, die um das Haus der Kindheit standen und da war ein Verlust, den zu benennen ich damals nicht im Stande gewesen wäre. Oft sass ich auf den besonnten Stufen vor dem Haus. Im Blick die Blautanne und neben ihr die Rottanne, die schon damals weit höher war als unser Haus und von der mein Vater sagte, dass sie aufgrund ihrer Höhe die Blitze vom Haus ableiten würde, was meine Kinderangst verscheuchte und den Baum zum schon fast magischen Schutzbaum werden liessen.

In den ausladenden Ästen dieser Tanne war die ihr eigene und von Wind und Wetter mitkomponierte Baummusik zu hören. Ein Raunen erst, dann tiefes Rauschen, das aus der Ferne zu kommen schien und sich im Baum auflud und anschwoll zum mächtigen Gebrause, um aus dem Baum hinaus und in mich hinein zu fahren. Wie lebendig da Cherubim und Seraphine und alle Erzengel auf ihren goldenen Wagen waren und wie klein und der Welt ausgesetzt sich das Menschlein fühlte, das im zu kurzen Sommerröckchen und barfuss dasass und so, ohne dass es diese Eindrücke hätte in Worte kleiden können, irgendwo in seinem Wesen begriff, dass in diesem Dasein das grosse Unbekannte mitspielt, immer da ist, kraftvoll, ungehalten, brausend.

Die Sommermusik war mir die liebste. Auch wenn kein Windhauch durch die Nadeln zu ziehen schien, war da dieses leichte, heitere Lied aus dem Fallen einzelner Nadeln, dem Sirren und Summen der Insekten, dem Knacken im Stamm und all das begleitet vom Harzgeruch, der mich bis heute nicht losgelassen hat und der mir mehr ist als alle künstlichen Stoffe der Duftindustrie. Es war, als würden die Sonnenstrahlen diesen Baumhoniggeruch noch verstärken und ich blähte meine Nasenflügel, um die Ausdünstungen des Baumes tief in meine Atemräume und damit in jede Zelle meines Leibes zu weisen.

Unter der Tanne lag ein rechteckiger, schwarzer Stein. Ein Grabstein. Auf dem Stein war ein Name in goldenen Lettern. An den Namen kann ich mich nicht mehr erinnern. Es muss jemand aus der väterlichen Ahnenlinie gewesen sein, der Ururgrossmutterstein vielleicht. Der Stein war nach der Grabräumung auf dem Friedhof unter diese Tanne gelegt worden und war auf der einen Seite mit Efeu überwachsen. Ich betrachtete diesen Stein oft mit leichtem Schaudern. Er war ein sichtbares Zeichen einer zwingenden Endlichkeit, die mir als damals Zwölf- oder Dreizehnjährige weiter weg war als Timbuktu oder die Osterinseln. Und doch, es war einer jener vielen Stacheln, die den Schritt aus der Kinderwelt in eine andere, unbekannte begleiteten. So wie ich als kleines Kind glauben wollte, dass die Erwachsenen wissend – allwissend – seien, so sehr litt in nun in dieser Ablösezeit am Eindruck, dass sie eben gar nichts wissen, nichts verstanden haben und mich schon gar nicht.

Und in dieser Zeit, als nicht nur mein Baum mein Freund hätte sein können, tauchte dieses Lied auf. Alexandra (seltsamerweise ist mein zweiter Taufname Alexandra, was eine andere Geschichte wäre), diese Namensschwester also sang dieses Lied, von dem ich mich angesprochen fühlte, weil da mein Schmerz des Nichtmehr und Nochnicht in Klang umgewandelt und so noch tiefer spürbar wurde. Ich war nicht mehr da-heim, da nicht und auch sonst nirgends. Meine Tanne war – im Gegensatz zu ihrem Baum – da, unbeirrbar, unbeeindruckt von den Wirren, die mich befallen hatten und hinaustrieben in eine Welt, deren Geografie mir niemand erklärt hatte.

Der junge Mann auf dem blauen Moped fuhr täglich vorbei. Ich hatte gespart und vom kargen Taschengeld ein Herz aus Schokolade und ein paar Fünfermocken gekauft. Das und dazu ein Briefchen, in dem ich ihn statt des Baumes als Freund ernannte, wollte ich ihm überreichen. Denn was da vom Bauch aus zwischen meinen Rippenbogen aufwärts kletterte und sich im Herzbeutel zu setzen schien, konnte ja nicht ein Geschehen ausschliesslich in meinem Innern sein. Später habe ich mich hinter der Tanne versteckt, wenn ich das Geräusch des Mopeds hörte. Drei Jahre jünger, hatte er gesagt. Und nein.

Ich bin weitergezogen, wurde getrieben und habe gedrängt, mich fallen lassen und aufgeschwungen, hüpfte und kroch, kenne Weinen und Lachen und noch ein paar Lebensstachel mehr. Das Lied von Alexandra habe ich wieder gehört. Die Tanne steht noch immer an ihrem Platz.

Lisa Alexandra Tralci

http://de.wikipedia.org/wiki/Alexandra_(S%C3%A4ngerin)

http://www.youtube.com/watch?v=Fvcv4C1CG6M

 

Lisa Alexandra Tralci
(MA Tagesklinik)
tralci@bluewin.ch