Mein Freund der Baum

Beitrag anlässlich des Wettbewerbs „Der Baum“
ausgeschrieben vom
Kompetenzzentrum Gesundheit und Alter, St. Gallen 

Mein Freund der Baum

(nach dem gleichnamigen Lied von Alexandra)

Das Lied, das die Sängerin Alexandra im Jahre 1969 veröffentlicht hat, habe ich jahrzehntelange nicht mehr gehört und auch nicht daran gedacht. Als es damals aus dem mit braunem Holz verkleideten Radio erklang, war ich in einer Lebensphase, in der mich das Gefühl des Unverstandenseins und eine Art Weltschmerz aus der familiären Nestwärme hinaus in ein neues, unbekanntes Land trieben. Da war dieses Lied, vorgetragen mit einer dunklen, schwermütigen Stimme, da waren die Bäume, die um das Haus der Kindheit standen und da war ein Verlust, den zu benennen ich damals nicht im Stande gewesen wäre. Oft sass ich auf den besonnten Stufen vor dem Haus. Im Blick die Blautanne und neben ihr die Rottanne, die schon damals weit höher war als unser Haus und von der mein Vater sagte, dass sie aufgrund ihrer Höhe die Blitze vom Haus ableiten würde, was meine Kinderangst verscheuchte und den Baum zum schon fast magischen Schutzbaum werden liessen.

In den ausladenden Ästen dieser Tanne war die ihr eigene und von Wind und Wetter mitkomponierte Baummusik zu hören. Ein Raunen erst, dann tiefes Rauschen, das aus der Ferne zu kommen schien und sich im Baum auflud und anschwoll zum mächtigen Gebrause, um aus dem Baum hinaus und in mich hinein zu fahren. Wie lebendig da Cherubim und Seraphine und alle Erzengel auf ihren goldenen Wagen waren und wie klein und der Welt ausgesetzt sich das Menschlein fühlte, das im zu kurzen Sommerröckchen und barfuss dasass und so, ohne dass es diese Eindrücke hätte in Worte kleiden können, irgendwo in seinem Wesen begriff, dass in diesem Dasein das grosse Unbekannte mitspielt, immer da ist, kraftvoll, ungehalten, brausend.

Die Sommermusik war mir die liebste. Auch wenn kein Windhauch durch die Nadeln zu ziehen schien, war da dieses leichte, heitere Lied aus dem Fallen einzelner Nadeln, dem Sirren und Summen der Insekten, dem Knacken im Stamm und all das begleitet vom Harzgeruch, der mich bis heute nicht losgelassen hat und der mir mehr ist als alle künstlichen Stoffe der Duftindustrie. Es war, als würden die Sonnenstrahlen diesen Baumhoniggeruch noch verstärken und ich blähte meine Nasenflügel, um die Ausdünstungen des Baumes tief in meine Atemräume und damit in jede Zelle meines Leibes zu weisen.

Unter der Tanne lag ein rechteckiger, schwarzer Stein. Ein Grabstein. Auf dem Stein war ein Name in goldenen Lettern. An den Namen kann ich mich nicht mehr erinnern. Es muss jemand aus der väterlichen Ahnenlinie gewesen sein, der Ururgrossmutterstein vielleicht. Der Stein war nach der Grabräumung auf dem Friedhof unter diese Tanne gelegt worden und war auf der einen Seite mit Efeu überwachsen. Ich betrachtete diesen Stein oft mit leichtem Schaudern. Er war ein sichtbares Zeichen einer zwingenden Endlichkeit, die mir als damals Zwölf- oder Dreizehnjährige weiter weg war als Timbuktu oder die Osterinseln. Und doch, es war einer jener vielen Stacheln, die den Schritt aus der Kinderwelt in eine andere, unbekannte begleiteten. So wie ich als kleines Kind glauben wollte, dass die Erwachsenen wissend – allwissend – seien, so sehr litt in nun in dieser Ablösezeit am Eindruck, dass sie eben gar nichts wissen, nichts verstanden haben und mich schon gar nicht.

Und in dieser Zeit, als nicht nur mein Baum mein Freund hätte sein können, tauchte dieses Lied auf. Alexandra (seltsamerweise ist mein zweiter Taufname Alexandra, was eine andere Geschichte wäre), diese Namensschwester also sang dieses Lied, von dem ich mich angesprochen fühlte, weil da mein Schmerz des Nichtmehr und Nochnicht in Klang umgewandelt und so noch tiefer spürbar wurde. Ich war nicht mehr da-heim, da nicht und auch sonst nirgends. Meine Tanne war – im Gegensatz zu ihrem Baum – da, unbeirrbar, unbeeindruckt von den Wirren, die mich befallen hatten und hinaustrieben in eine Welt, deren Geografie mir niemand erklärt hatte.

Der junge Mann auf dem blauen Moped fuhr täglich vorbei. Ich hatte gespart und vom kargen Taschengeld ein Herz aus Schokolade und ein paar Fünfermocken gekauft. Das und dazu ein Briefchen, in dem ich ihn statt des Baumes als Freund ernannte, wollte ich ihm überreichen. Denn was da vom Bauch aus zwischen meinen Rippenbogen aufwärts kletterte und sich im Herzbeutel zu setzen schien, konnte ja nicht ein Geschehen ausschliesslich in meinem Innern sein. Später habe ich mich hinter der Tanne versteckt, wenn ich das Geräusch des Mopeds hörte. Drei Jahre jünger, hatte er gesagt. Und nein.

Ich bin weitergezogen, wurde getrieben und habe gedrängt, mich fallen lassen und aufgeschwungen, hüpfte und kroch, kenne Weinen und Lachen und noch ein paar Lebensstachel mehr. Das Lied von Alexandra habe ich wieder gehört. Die Tanne steht noch immer an ihrem Platz.

Lisa Alexandra Tralci

http://de.wikipedia.org/wiki/Alexandra_(S%C3%A4ngerin)

http://www.youtube.com/watch?v=Fvcv4C1CG6M

 

Lisa Alexandra Tralci
(MA Tagesklinik)
tralci@bluewin.ch

 

 

 

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert