Archiv der Kategorie: Eines von 286

Zeitungen transportieren Neuigkeiten. Diese sind oft negativ gefärbt, berichten von schlimmen Ereignissen, von Leid, Schmerz und Gewalt. Das Wort wird Träger, Bote und Werkzeug, es verliert sich in den Fluten der Meldungen.Um die Worte aus diesen Wirklichkeiten zu schälen, um sie zu befreien und um ihnen während einer bestimmten Zeitspanne eine andere Aufmerksamkeit zu schenken, habe ich ein Jahr lang an jedem Werktag – an dem ich in Herisau war – ein Wort aus einer Titelzeile der Appenzeller Zeitung geschnitten. Ich habe das Wort gewählt, das mich als Erstes positiv angesprochen hat.Nach Ablauf dieses Jahres liegen 286 Wörter da. Ich habe diese Worte an ausgewählte und/oder unbekannte Menschen geschickt, mit der Bitte, sich Gedanken zu machen zum jeweils zufällig zugeteilten Wort. Was löst es für Assoziationen aus? An was erinnert es? Wann würden Sie es einsetzen? Die von mir ausgewählten Worte werden neu belebt, aufgeladen, sie zeigen ihre Mehrdeutigkeit und fliessen durch die anschliessende Veröffentlichung der Texte wieder zurück in die Zeitung.Meine Aktion ist ein Versuch, der täglichen Wortflut einen Akt des Verweilens gegenüberzustellen – wenn hundert Menschen jeweils etwa zwei Stunden für «ihr» Wort aufwenden, ergibt das etwa 200 Stunden «für das Wort».Ab 7. August an (fast) jedem Werktag Gedanken zu einem ausgewählten Wort! Hier. So lange der Textvorrat reicht. Lesen Sie mit?!

Eines von 286

Zeitungen transportieren Neuigkeiten. Diese sind oft negativ gefärbt, berichten von schlimmen Ereignissen, von Leid, Schmerz und Gewalt. Das Wort wird Träger, Bote und Werkzeug, es verliert sich in den Fluten der Meldungen.

Um die Worte aus diesen Wirklichkeiten zu schälen, um sie zu befreien und um ihnen während einer bestimmten Zeitspanne eine andere Aufmerksamkeit zu schenken, habe ich ein Jahr lang an jedem Werktag – an dem ich in Herisau war – ein Wort aus einer Titelzeile der Appenzeller Zeitung geschnitten. Ich habe das Wort gewählt, das mich als Erstes positivangesprochen hat.

Nach Ablauf dieses Jahres liegen 286 Wörter da. Ich habe diese Worte an ausgewählte und/oder unbekannte Menschen geschickt, mit der Bitte, sich Gedanken zu machen zum jeweils zufällig zugeteilten Wort. Was löst es für Assoziationen aus? An was erinnert es? Wann würden Sie es einsetzen? Die von mir ausgewählten Worte werden neu belebt, aufgeladen, sie zeigen ihre Mehrdeutigkeit und fliessen durch die anschliessende Veröffentlichung der Texte wieder zurück in die Zeitung.

Meine Aktion ist ein Versuch, der täglichen Wortflut einen Akt des Verweilensgegenüberzustellen – wenn hundert Menschen jeweils etwa zwei Stunden für «ihr» Wort aufwenden, ergibt das etwa 200 Stunden «für das Wort».

Ab 7. August an (fast) jedem Werktag Gedanken zu einem ausgewählten Wort! Hier. So lange der Textvorrat reicht. Lesen Sie mit?!

Hüterin

Das Wort «Hüterin» bringen wohl die meisten Leute spontan mit der Polizei oder der Armee als Hüterin der Ordnung oder im umgekehrten Sinn mit der Verhütung oder mindestens Eindämmung von Gewaltbereitschaft, Gesetzesübertretungen oder Gewaltakten grösseren Ausmasses in Verbindung.

Näher im Leben steht uns jedoch sicher das Bild der Grossmutter als Hüterin ihrer Enkelkinder. Sie hütet und versucht, vor Schmerz und Leid zu bewahren, wacht bei Tag und Nacht über das Wohl der Anvertrauten. Tausend Fragen hat sie zu beantworten, nach dem Wieso, Warum, Wozu. Alte Traditionen versucht sie zu erhalten, Lieder, Verse, Spiele, alte Geschichten und vieles andere Generationen überschreitend weiter zu geben. Sie ist es, die von grosser Geduld und Lebenserfahrung getragen, Werte wie Anstand, Sitte, die Bedeutung von Liebe, Trauer und Freude, die Achtung anderer Menschen, der Tiere und den Respekt vor der ganzen Schöpfung den Grosskindern mit Geduld beizubringen versucht.

Wenn ich spontan überlege, sehe ich die Grossmutter als Hüterin ihrer Enkel, im Tun vergleichbar und fast so leidenschaftlich, wie es zu Urzeiten die Ritter als Hüter des heiligen Grals waren.

Loswerden

Als Hauswart möchte man manchmal recht gern einiges loswerden. Im Abfallkübel werden regelmässig Esswaren, zum Beispiel gute Schinken-Käse- Toasts, entsorgt. Da habe ich schon das Gefühl, manche Menschen möchten sogar den Wohlstand loswerden. Als gut erzogener Mensch möchte ich diese Verschwender recht gerne loswerden. Auch auf Randalierer, die aus Langeweile die Treppe zerstören oder die Hausfassade besprayen, könnte ich verzichten. Das heisst doch, ohne mir gross Gedanken zu machen, ich möchte sie loswerden.

Persönlich bin ich ein kleines Schleckmaul und möchte die Büchse mit den guten Appenzeller-Nidelzeltli, die auf meinem Schreibpult stehen, auf keinen Fall loswerden. So, jetzt habe ich einiges erzählt und möchte nur noch meine gut gemeinten Gedanken per E-Mail loswerden.

Schreiben

Sie werden es nicht glauben, aber ich habe die Aufgabe der Appenzeller Zeitung sehr eifrig in Angriff genommen, ohne das Geschriebene richtig gelesen zu haben. Sie kennen das, eine Gebrauchsanweisung liest man ja auch erst, wenn nichts mehr funktioniert. Also, ich habe Buchstaben in den PC getippt, habe mich über gelesen oder eben nicht gelesene Mails, Zeitungsartikel, Word-Dokumente und Graffitti ereifert. Habe mich über Geburtstagskarten geäussert, welche bei uns immer zusammen mit der Weihnachtspost im Briefkasten landen und noch auf dem gleichen Tablett liegen, wo vor einiger Zeit der Christbaum stand. Selbstverständlich möchte man sie nach der geruhsamen Adventszeit einmal in Ruhe nochmals durchlesen. Ich habe mich in meinem Artikel immer wieder gefragt, ob alles Geschriebene wirklich auch gelesen wird. Auch bei meinem Artikel stelle ich mir die Frage, ob der wohl gelesen wird. Eines ist mir aber sicher, bekomme ich ein Feedback von Appenzeller Zeitung Leserinnen und Lesern, war es so. Ich auf alle Fälle musste mit meinem Beitrag zum Thema «schreiben» nochmals von vorne beginnen, weil ich mit 1000 Wörtern statt Zeichen geendet habe. Hätte ich alles Geschriebene besser gelesen, hätte ich mir diese Arbeit sparen können.

Verteilen

«Doch wie die beiden anderntags erwachten und in die Stube kamen, ersahen sie mit Staunen und Verwunderung, dass all das Laub sich in lauter güldene Taler verwandelt hatte. Hocherfreut schüttelten sie die beiden leerstehenden Truhen auf dem Estrich voll, und den Rest verschenkten sie all den Bedürftigen in der Gegend.» Wer möchte nicht wie die beiden aus der Brüeltobel-Sage eines schönen Morgens aufwachen, die Augen reiben und feststellen, dass sich all der unnütze Wust des Vortages in pures Gold verwandelt hat?

Truhen müssten wieder her, um darin all das Geld dieser Welt aufzubewahren. Und plötzlich sähe der eine oder die andere, was sich in seiner Stube und auf ihrem Estrich – wenn auch meist nicht über Nacht – angehäuft hat: Keine abstrakte Zahl auf einem Bankauszug, sondern Berge von Gold und Silber. Gewisse Häuser würden überquellen, Decken und Böden bersten unter der Last des Edelmetalls. Vielleicht fiele es uns so leichter, «den Rest» an all die Bedürftigen in der (Welt-)Gegend zu verteilen …

Grenzerfahrungen

An der bulgarischen Grenze, 1970: Ich werde zurückgeschickt, weil meine Haartracht – mittlerweile sehe ich aus wie ein Hippie – nicht mehr mit dem Bürstenschnitt des Pubertierenden auf dem Passfoto übereinstimmt.

An der österreichischen Grenze, 2004: Immer wieder bin ich überrascht, dass die Schweiz genau bis zur Mitte der Rheinbrücke geht und dahinter – genau an dieser Linie – ein anderes Land mit einem andern Dialekt, anderem Umgangston und anderen Uniformen – nicht beginnt, sondern schon da ist.

Ich selbst übersteige die Grenze, bewusst werdend und beinahe frohlockend, offenbar ein ganz besonderer Schritt.

Wohin soll es denn gehen?
Galilei durchsticht mit dem Fernrohr die Grenze der Erde, Faust durchschreitet die Grenze der Vernunft und Odysseus durchmisst das Meer, um – nach Hause zu gelangen.

Gibt es Grenzen als Ende? Gibt es eine Grenze als Ende meiner Wünsche, meines Selbst? Ja, sagt Horaz, das, was genug ist, das ist die Grenze, nämlich das Mass. Wie finde ich das?

Und wie kann ich die Endlinien meines Verstehens überschreiten?
Ich spüre zwischen dir und mir eine Grenze; kann ich auch sie überschreiten, bewusst frohlockend?

Himmelszelt

Himmelszelt bedeutet für mich Unendlichkeit. Endlos, grenzenlos die Fülle von Möglichkeiten und dennoch vermittelt es das Gefühl von Geborgenheit. Ein riesiges Zelt unter dem alle, ob Arm oder Reich, Schwarz oder Weiss, gleich welcher Sprache zu Hause sind. Jeder Mensch im Vergleich dazu nur ein winziges Sandkorn.

Himmelszelt – ich blicke hinauf, manchmal mehr und manchmal weniger und weiss doch, es ist immer da. Es ist nie launisch; das Wetter macht es abwechslungsreich und zeigt es in den verschiedensten Kleidern. Mal strahlend blau, mal trüb und wolkenverhangen, mal mit weissen Schäfchenwolken gespickt oder mit Schleiern überzogen. Verschiedene Kleider und verschiedene Farben. Rosa beim Sonnenaufgang, blau beim schönsten Wetter, gelblich bei Hagel, purpurrot bei Sonnenuntergang. Auch hier wieder eine Unmenge von Möglichkeiten. Es begleitet mich Tag für Tag, ja sogar in meinen Träumen. Himmelszelt, sei weiter Insel der Geborgenheit.

Schatzkammer

Für mich ein reichlich materialistischer Begriff. Gold, Silber, Edelsteine, Perlenketten – ein Hauch von Reichtum. Verheissungsvoll kündend vom sorglosen Leben. Den Lebensunterhalt bestreiten können. Etwas Polster haben, ist für mich beruhigend. Mehr nur Belastung. Täglich die Börsenkurse beobachten, die erfolgreichsten Investitionen tätigen, Finanzberatungen beanspruchen. Blockierende Angst, Werte zu verlieren.

Ich möchte meine Zeit sinnvoller einsetzen: Wenn ich nur für eine kurze Weile den kleinen, unscheinbaren Dingen im Leben Beachtung schenken kann wie etwa dem Summen der Bienen oder dem Gesang der Vögel, dem Plätschern des Brunnens, dann kann ich meine innere Schatzkammer entdecken. Eine innere Freiheit voll Freude und Dankbarkeit, die alles Materielle auf dieser Welt vergessen lässt. Jetzt nicht schmunzeln. Ein Versuch lohnt sich.

Netze

Meine Tochter hat kürzlich eine schöne Kurzgeschichte mit dem Titel «Das Flattern des Netzes» geschrieben. Angeregt wurde sie durch einen Literaturwettbewerb zum Thema «Netz» von ostschweizerinnen.ch. Die Geschichte erzählt von zwei Fussball spielenden Freundinnen und ihren Gefühlen, wenn der Ball im Tornetz landet. Handelt es sich hier um ein ganz handfestes Netz, ist ostschweizerinnen.ch ein virtuelles FrauenNetzWerk, das Ostschweizerinnen online vernetzt.

Diese Anwendungs- und Bedeutungserweiterung ist ein Spiegel für den Wandel und die Modernisierung unserer Gesellschaft: Von den Fischernetzen über die Eisenbahn- und Stromnetze zu den Datenbanknetzen. Die virtuellen Netze dominieren heute, und umgangssprachlich sind die Einkaufs- und Haarnetze weit gehend von sozialen und neuronalen Netzen verdrängt worden. Würden nicht beim Fussball- und Tennisspiel auch heute noch geknüpfte Netze gebraucht, so wären uns die realen Netze und ihre ursprüngliche Bedeutung schon fast abhanden gekommen.

Zuversicht

Das Wort «Zuversicht» ist mir von der Redaktion zugeteilt worden. Es ist ein gutes, starkes Wort. Als Kind hörte ich es zum ersten Mal im Religionsunterricht. Man sang: «Jesus, meine Zuversicht.» Es ist mir lange ein Wort der Kirche geblieben. «Hoffnung» war mir vertrauter. Jeder hofft immer wieder, auch wenn er so oft enttäuscht wurde. Das «Vielleicht» begleitet die Hoffnung. Sie ist die unzuverlässigere Schwester der «Zuversicht.»

In all den Jahren, die vergangen sind bis ich neunzig wurde, ist die Zuversicht immer öfter aus der Kirche zu mir in den Alltag gekommen. Dort ist sie geblieben. Wem sie mehr als nur ein leeres, wenn auch frommes Wort ist, dem gibt sie Boden unter den Füssen, stärkt den vom Leben gebeugten Rücken und lässt den Kopf sich erheben. Das «Vielleicht» weicht der «Gewissheit», dass es eine Kraft gibt, die uns stärkt und auch hilft, Übles zu ertragen. Wenn mir keine Hoffnung mehr bleibt, dass mir all die Pülverlein, Tabletten, Salben und Spritzen des Arztes zum Überleben helfen, soll mir doch die Zuversicht bleiben, dass ich dorthin gehen darf, wo das «grosse Erbarmen» auf mich wartet.