Im Paradies

Vermutlich sind Sie, liebe Leserin, lieber Leser, mit mir einig, dass wir nicht im Paradies leben. Träumen Sie aber auch von einem Paradies? Wie stellen Sie sich dieses Paradies vor? Ich meine, in einem Paradies kennt man keine Gewalt, keinen Krieg, keinen Hunger, keinen Neid, keinen Egoismus, keine Ungerechtigkeit, keine Verleumdung, kein Mobbing, keinen Leistungsdruck, kein Streben nach Geld und Gut, keinen falschen Ehrgeiz, kein Leiden an Körper und Seele, keine Bedrohung, keine Kriminalität, keine Naturkatastrophen …

Warten Sie aufs Paradies im Jenseits, nach dem Tod? Wäre es auch möglich, schon hier und jetzt paradiesische Zustände anzustreben? Im mitmenschlichen Bereich gäbe es doch so viele Möglichkeiten, schon in dieser Welt kleine paradiesische Inseln zu schaffen!

Neubeginn

«Und jedem Anfang liegt ein Zauber inne …» (Zitat aus «Spuren» von H. Hesse)

Mehr oder weniger bewusst beginnen wir jeden Tag, jeden Monat, jedes Jahr, jeden Lebensabschnitt neu. X-mal pro Tag beginnen wir etwas neu. Viel Unbedeutendes, hin und wieder aber auch entscheidende Veränderungen. Manchmal gewollt, manchmal auch durch äussere Umstände aufgezwungen. Ideal ist, wenn die Aussicht auf Neubeginn die nötige Energie erzeugt, um sich darauf einzulassen. Neubeginn bedeutet nämlich auch, sich von Altem, Vertrautem zu lösen. Die Ungewissheit verunsichert und belastet. Deshalb braucht es für jeden Neubeginn «Motoren», die uns antreiben und vorwärts bewegen. So möchte ich uns allen genügend Neugierde auf den «Zauber des Neubeginns» sowie Zuversicht auf gutes Gelingen als Antrieb wünschen.

Ungebändigt

das feuer frisst sich ungebändigt durch flora, fauna und wälder. bahnt sich seinen weg durchs geäste.

das wasser tobt ungebändigt durch schluchten und stösst mit ungebrochener kraft um oder mit, was die fluten erwischen. schnee- und schlammmassen donnern ungebändigt, alles mit sich reissend, zu tale. ersticken und begraben mit unheimlicher kraft. der wind als willkommene abkühlung oder mittel zum zwecke kann zu einem ungebändigten faustschlag werden und um ecken herum pfeifen, zum biegen, brechen oder zerschlagen. die tiere gehen ungebändigt aufeinander los, hetzen und jagen durch steppen. die natur mit ihrer ungebändigten energie, kraft und unberechenbarkeit. immer wieder versucht, von menschenhand in die schranken zu weisen!

Der Mond

Sind Sie mondsüchtig? Ist der Mond schuld an Ebbe und Flut? Kennen Sie den vollständigen Text des Lieds «Der Mond ist aufgegangen»? Was kommt Ihnen beim Stichwort «Honeymoon» in den Sinn? Und was ist ein Mondkalb? Oder haben Sie schon mal den Mann im Mond gesehn? Was hat der Mond mit dem Montag zu tun? Haben andere vielleicht sogar manchmal den Eindruck, Sie lebten hinter dem Mond?

Warum habe ausgerechnet ich den Mond erwischt? Ich könnte mich doch zu Wörtern äussern wie «Die Politik», «Das Vertrauen», «Das Geld» …

Seit langem wirkt in mir die dritte Strophe des eingangs genannten Lieds – nein, nicht jenes von Gus Backus, sondern das von Matthias Claudius – nach: Seht ihr den Mond dort stehen? Er ist nur halb zu sehen und ist doch rund und schön. So sind wohl manche Sachen, die wir getrost belachen, weil unsre Augen sie nicht sehn. Wie schön wäre es, wenn wir uns in dieser schnelllebigen Zeit ab und zu diese Strophe vor Augen hielten und überlegten, ob wir wirklich alles gesehen haben, auch das nicht hell Beleuchtete, Grelle, Vorlaute? Wenn wir uns bemühten, auch das Beschattete, Bescheidene, Stille zu sehen – halt das Ganze eben …

Liebeserklärung

Dass Liebe Erklärungen bedarf, deutet auf Unerklärbares. Dabei wollen alle, von Liebe ergriffen, geschüttelt, verzaubert, verwundert, verwirrt – und noch mehr und noch weniger – nichts anderes, als das Beglückende so klar als möglich mitteilen. Mir weckt das Wort Erinnerungen an grosse Romane vergangener Zeiten. Keinem heutigen Autor gelängen solch göttlich zu lesende Liebeserklärungen. In unserer herrlich medialen Zeit wird zur Tat geschritten, zuweilen geht das Schreiten flink, ohne Einschluss von Bedenkzeit. Und im realen Leben? Sind wir – trotz aller Spielmöglichkeiten – im Liebeserklärungs-Notstand? Dafür ist das Wort allein vielfältig anwendbar. Es geht an Katzen, an den Sommer, an das Leben, an den Sport, und, fast nicht hörbar, an Sie und an mich. Erbarmt sich unsere Maschine, liefert Programmierbares? Die einzige individuell mögliche Erklärung aber ist ein Sprung ohne Sicherung.

Sonnenstrasse

Die «Sonnenstrasse» bedeutet für mich etwas, das immer in Richtung Licht, Wärme und Freiheit führt. Bedenken wir doch, dass wir hier im Appenzellerland auf solch einer Strasse sind. Es ist gewiss nicht immer einfach, wenn man die wirtschaftliche Lage betrachtet. Wenn aber ein arbeitsreicher Tag zu Ende geht und der Abend hereinbricht und man in den Alpstein ins Abendrot und die Freiheit blickt, so entschädigt dies für so manches. Also hoffen wir, dass wir auf der «Sonnenstrasse» weiter verweilen dürfen und Sorge zu unserer Umgebung haben, um schlussendlich am nächsten Morgen wieder auf der «Sonnenstrasse» in die Freiheit fahren zu dürfen.

Aufbrechen

Die zwei nachgestellten Wörtchen „zu“ und „von“ geben dem Begriff „aufbrechen“ unterschiedliche Inhalte. Je nach (Lebens-)Situation erhalten sie Priorität, enthalten sie Möglichkeiten, Sehnsüchte und auch Gefühle von Hilflosigkeit und/oder Aggression.

Aufbrechen zu: Menschen – (Lebens-)Zielen – Verschobenem – Geplantem – Zivilcourage – Taten – Wurzeln – neuen Wegen – Entdeckungen – Hören – Sehen – Fühlen – Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft – Sinnverwirklichung.

Aufbrechen von: Herzen – Strukturen – Tresoren – Vorurteilen – Rollen – Egoismus – Eitelkeiten – Eigensinn – Parteien – Religionen – Kirchen – Wirtschaft – Politik – Misstrauen – Gewalt – Fremdsein.

Sonnig

Sonnig – welche schönes Tagesmotto!

Ich kann keine spezielle Geschichte erzählen, doch das Wort „sonnig“…

…bringe ich in Verbindung mit sonnigen Zeiten: Momente, Stunden, Tage; sonnigen Orten: vor dem Haus, im Süden, am Meer, in Afrika; sonniges Gemüt: froher Mensch; sonnigen Farben: Gelb – Orange – Rot;

…bedeutet für mich Licht, Helligkeit, Wärme, Wohlbefinden, Leben, Wachstum, Freude, blauer Himmel, Sommer;

… weckt in mir wohltuende Bilder: Sonnenaufgang, Sonnenuntergang, Sonnenstrahlen, Sonnenschein, Sonnenuhr, Sonnenblumen, Sonnenröschen.

Sonnig – welch wohltuendes Wort!

Milchstrasse

Milch + Strasse. Zwei vertraute Begriffe. Milch – weiss – Kuh – gesund – Schweiz. Strasse – Fortbewegung – Lärm – Verkehrsnetz – Schweiz. Setze ich die beiden Begriffe zusammen, entsteht ganz anderes: Unendlichkeit, Zauber, Schönheit, Geheimnis, Diamantenfunkeln im Nachthimmel. Mein erstes Lied entstand beim Betrachten der Milchstrasse. Ich war etwa elf Jahre alt. Wie jeden Sommer fuhren wir auch in diesem Jahr nach Sur En, wo wir zusammen mit zwei verwandten Familien ein kleines Zeltdorf einrichteten. In der Mitte das Lagerfeuer. Dort sass ich jeden Abend, träumte mich ins Universum und besang die Ferne der Sterne.

Weit kam ich mit dieser Art der Dichtkunst nicht, doch die Liebe zum Zelten und die Liebe zu den Sternen blieben. Ich teile sie mit meinem Vater, der seine Fitness-kilometer auf dem Standvelo «fährt» und dazu Texte über das Weltall liest. Begeistert erzählt er von seinen Entdeckungen; gemeinsam staunen wir über das, was unser begrenzter Verstand nicht begreifen kann. Meine Mutter hat einen anderen Zugang zu den Sternen. Schon früh versuchte sie mir, zum Teil sogar erfolgreich, beizubringen, mich und meine Probleme nicht so ernst zu nehmen, wir alle seien nur winzig kleine Staubkörner im unendlichen Raum. Als Element unserer Milchstrasse bin ich nicht mal ein Staubkorn und doch bin ich – denke ich. Die Milchstrasse verbindet so den Wissensdurst des Vaters, den menschlichen Drang, den Urgrund unseres Lebens zu entdecken, mit dem philosophischen Nachdenken der Mutter über den Sinn unseres Daseins. Als Tochter meiner Eltern erlaube ich mir ein Drittes: Die kindliche Freude am Funkeln der Sterne, wie ich sie auch erlebe, wenn die Sonne die Sterne in frisch gefallenem Schnee zum Glitzern bringt, wenn Wasser im Licht zum gleissenden Teppich wird, wenn ein Regentropfen in einem Blatt oder in einem Spinnennetz die Vielfalt der Farben offenbart. Wie im Grossen so im Kleinen. Und wenn ich einen Diamanten betrachte, denke ich nicht an Kohlenstoff, sondern an einen vom Himmel gefallenen Stern.

Gegensaätze

Ein Brief von der Appenzeller Zeitung? Schon wieder eine Rechnung? Diesmal nicht! Titel des Briefes: «Eines von 286» und dann die Erklärung. Am Schluss des Briefes das Wort «Gegensätze».

Und nun? «Hirnen» oder: die Zeit verstreichen lassen und man hört nichts mehr von mir, bis die Eingabefrist abgelaufen ist. Auch nicht gerade die Art des feinen Mannes. Zum Glück ist wieder einmal Regen angesagt, im Gegensatz zum letzten Sommer! Im Internet (der Technik sei Dank), Suchmaschine Google, erscheinen 35 500 Eintragungen unter «Gegensätzen». Und das in nur 0,1 Sekunden! Diese Menge verwirrt mich (die Technik sei verflucht). Ich habe eine Idee. Frau Tralci hatte eine Idee. Während eines Jahres hat sie jeden Tag aus der Zeitung ein Wort ausgeschnitten. Es sind 286 Wörter zusammengekommen. 286 Geschichten sollen, mit Bezug auf das erhaltene Wort, erzählt werden. 200 von ausgelosten und 86 von ausgewählten Leserinnen und Lesern.

Auch der Bildhauer Horst Bohner hatte eine Idee. Zeitungsnotiz vom 29. März 2004: Jeden Tag des Jahres 2003 modelliert der Schweizer Künstler Horst Bohner eine Figur. «Art Tagebuch in 365 Figuren» nennt er die Arbeit. So sind 365, je nach Tagesform und Gemütsverfassung unterschiedliche Werke entstanden. Nicht die Idee, sondern die Art der Darstellung im Vergleich zu Frau Tralcis Idee ist das Gegensätzliche. Die dritte, ähnliche Idee, aber in der Darstellung auch gegensätzlich, hatte ich als Hobby-Fotograf. In meinem 70. Lebensjahr habe ich jeden Tag eine Polaroid-Foto gemacht. Notabene nur eine, auch wenn sie zu hell oder zu dunkel geraten war, sie blieb die «Pola des Tages». So entstanden auch hier 365 Arbeiten, je nach Stimmung und/oder Tagesform unterschiedlich (gegensätzlich) in Sujet und Darstellung. 286 Geschichten, 365 Bronze-Figuren, 365 Polaroid-Fotos. Drei gleiche Ideen. Drei gegensätzliche Darstellungen! Was wäre der Mensch, die Welt, das Leben ohne Gegensätze!