Archiv der Kategorie: Eines von 286

Zeitungen transportieren Neuigkeiten. Diese sind oft negativ gefärbt, berichten von schlimmen Ereignissen, von Leid, Schmerz und Gewalt. Das Wort wird Träger, Bote und Werkzeug, es verliert sich in den Fluten der Meldungen.Um die Worte aus diesen Wirklichkeiten zu schälen, um sie zu befreien und um ihnen während einer bestimmten Zeitspanne eine andere Aufmerksamkeit zu schenken, habe ich ein Jahr lang an jedem Werktag – an dem ich in Herisau war – ein Wort aus einer Titelzeile der Appenzeller Zeitung geschnitten. Ich habe das Wort gewählt, das mich als Erstes positiv angesprochen hat.Nach Ablauf dieses Jahres liegen 286 Wörter da. Ich habe diese Worte an ausgewählte und/oder unbekannte Menschen geschickt, mit der Bitte, sich Gedanken zu machen zum jeweils zufällig zugeteilten Wort. Was löst es für Assoziationen aus? An was erinnert es? Wann würden Sie es einsetzen? Die von mir ausgewählten Worte werden neu belebt, aufgeladen, sie zeigen ihre Mehrdeutigkeit und fliessen durch die anschliessende Veröffentlichung der Texte wieder zurück in die Zeitung.Meine Aktion ist ein Versuch, der täglichen Wortflut einen Akt des Verweilens gegenüberzustellen – wenn hundert Menschen jeweils etwa zwei Stunden für «ihr» Wort aufwenden, ergibt das etwa 200 Stunden «für das Wort».Ab 7. August an (fast) jedem Werktag Gedanken zu einem ausgewählten Wort! Hier. So lange der Textvorrat reicht. Lesen Sie mit?!

Küsse

Mögen Sie Küsse? Welche? Die Klebrigen? die feucht Schmatzenden? Die Verschwörerischen, die politisch Korrekten … oder die politisch demonstrativen Bruderküsse? Die nicht, aber die Schwestern-Küsse?! Etwa die nachhaltigen Bio-Lippenstift-Küsse? Die Curryküsse, Käseküsse, Knoblauchküsse? Bier- oder lieber Weissweinküsse? Doch noch eher Nikotinküsse? Oder gar die süssen, die dunkel lockenden Negerküsse (pfui, rassistisch!)? Notfalls die luftig Hingehauchten, die elegant Gleichgültigen, die rechts -links -rechts -du -gehörst-dazu-Küsse?

Falls Sie jetzt den (heute schon geküssten?) Kopf schütteln und gar nicht draus kommen: Ich komme ja bei dieser Küsserei auch nicht mit!

Katze

Ich soll also zu Papier bringen, was mir zum Wort «Katze» einfällt. Das sind zunächst ein paar Redewendungen, wobei mir auffällt, dass fast alle einen leicht negativen Beigeschmack haben. Man sollte ja wirklich nicht die Katze im Sack kaufen. Alles wurde versucht, aber alles war für die Katze. Man wird immer wieder rückfällig, denn die Katze lässt das Mausen nicht. Sie sind wie Hund und Katze zueinander. Wer eine Nacht durchzecht, muss sich am andern Morgen nicht wundern, wenn er eine Katze hat, und weil er vielleicht zeitlich knapp dran ist, macht er halt Katzenwäsche. Katz- und Mausspiel kann für die Maus gefährlich werden. In der Nacht seien scheints alle Katzen grau. Und sollte es einmal Katzen hageln, welch ein Katzenjammer überall!

Wir hatten auch eine Katze. Ein entmannter Kater, «Mauz» hiess er. Mauz war ein hervorragender Mäusefänger. Am liebsten hätte er seine Beute auf dem Stubenteppich gefressen. Eine Katze, die Mäuse fängt, fängt auch Vögel, aber die hat sie nie ins Haus gebracht. So zu handeln hat Mauz rasch gelernt. Um eines habe ich unsere Katze immer beneidet: Sie konnte so genüsslich bequem und faul auf einer weichen Unterlage liegen und schlafen. Mauz ist tot. Er erreichte aber das stattliche Alter von 25 Jahren. So, nun habe ich die Katze aus dem Sack gelassen.

Geschichten

Geschichten laden mich ein zum Erzählen. Für mich bedeutet das Wort «Geschichten» ein Sammelbegriff von vielen verschiedenen Bereichen.

Geschichten bereichern, Geschichten helfen abladen, können lehrreich sein. Geschichten lassen manch Trauriges vergessen. Geschichten von früher können uns in Gedanken in längst vergangene Zeiten versetzen. Kindergeschichten haben für mich einen riesengrossen Stellenwert, und «Das», diese Geschichten, versuche ich weiter an meine Enkel zu geben.

Musik

Ist es wohl Zufall, dass das Los gerade mir das Wort Musik zugeteilt hat? Kaum ein anderes Wort beflügelt meine Gedanken mehr.

Musik hat ja so viele Gesichter. Für mich ist Musik ein gleichermassen wichtiges Lebenselement wie die Ruhe, gute Luft und Wärme. Ein harmonisches, klassisches Konzert lässt mir meine Arbeit leichter von der Hand gehen und steigert meine Kreativität. Ein Lied zu singen, zu jodeln, löst manch innere Blockade. Der Gesang der Amsel am frühen Morgen, die frühen Schreie der Mauersegler, der Klangteppich, den die Grillen an einem schönen Sommertag legen – all diese Töne empfinde ich als reinste Musik und sie stören mich nicht einmal in der von mir so geliebten und gesuchten Ruhe. Ich weiss, dass ganz viele Leute das Wort Musik für anderes brauchen: für monotones, dumpfes «Gerape» zum Beispiel, für disharmonische Komposition, die ich nicht verstehe und die mir in den Ohren weh tun. Ob bei diesen Leuten die von ihnen Musik genannten Töne auch diese Wärme in Körper und Seele erzeugen?

Begreifen

Bei mir ist es wohl nur die eine Sache, die ich nie ganz begreifen werde: die Männer. Richtig, keine Sache, sondern eine Spezies. Dies wurde mir wieder so richtig bewusst, als ich unlängst ein Gespräch unter Männern «be-lauschte». Darin ging es um die berühmten Weihnachtsgeschenke für deren Liebste. Der eine erzählte, dass er schon seit 23 Jahren seiner Frau jedes Jahr einen Pijama schenke. Der zweite überraschte vergangenes Jahr seine Gattin mit einem neuen Eimer, Mop und gelben Gummihandschuhen. Der dritte rennt seit zehn Jahren am 24. Dezember, kurz vor Ladenschluss, zum Juwelier und bittet diesen, ihm noch schnell «etwas Goldiges» in ein kleines Schmuck-Säckchen einzupacken. Nun habe er es aber letzte Weihnachten bis zur Bescherung in seiner Hosentasche vergessen. Fand die Hose samt Schmuck nicht am Bügel, sondern in der Waschmaschine wieder.

Da das gegenseitige Begreifen manchmal so schwer fällt, entledigen wir uns doch der Vorsilbe «be» und «greifen» nächste Weihnachten mit neuer Hoffnung in die Geschenk-Kiste!

Im Paradies

Vermutlich sind Sie, liebe Leserin, lieber Leser, mit mir einig, dass wir nicht im Paradies leben. Träumen Sie aber auch von einem Paradies? Wie stellen Sie sich dieses Paradies vor? Ich meine, in einem Paradies kennt man keine Gewalt, keinen Krieg, keinen Hunger, keinen Neid, keinen Egoismus, keine Ungerechtigkeit, keine Verleumdung, kein Mobbing, keinen Leistungsdruck, kein Streben nach Geld und Gut, keinen falschen Ehrgeiz, kein Leiden an Körper und Seele, keine Bedrohung, keine Kriminalität, keine Naturkatastrophen …

Warten Sie aufs Paradies im Jenseits, nach dem Tod? Wäre es auch möglich, schon hier und jetzt paradiesische Zustände anzustreben? Im mitmenschlichen Bereich gäbe es doch so viele Möglichkeiten, schon in dieser Welt kleine paradiesische Inseln zu schaffen!

Neubeginn

«Und jedem Anfang liegt ein Zauber inne …» (Zitat aus «Spuren» von H. Hesse)

Mehr oder weniger bewusst beginnen wir jeden Tag, jeden Monat, jedes Jahr, jeden Lebensabschnitt neu. X-mal pro Tag beginnen wir etwas neu. Viel Unbedeutendes, hin und wieder aber auch entscheidende Veränderungen. Manchmal gewollt, manchmal auch durch äussere Umstände aufgezwungen. Ideal ist, wenn die Aussicht auf Neubeginn die nötige Energie erzeugt, um sich darauf einzulassen. Neubeginn bedeutet nämlich auch, sich von Altem, Vertrautem zu lösen. Die Ungewissheit verunsichert und belastet. Deshalb braucht es für jeden Neubeginn «Motoren», die uns antreiben und vorwärts bewegen. So möchte ich uns allen genügend Neugierde auf den «Zauber des Neubeginns» sowie Zuversicht auf gutes Gelingen als Antrieb wünschen.

Ungebändigt

das feuer frisst sich ungebändigt durch flora, fauna und wälder. bahnt sich seinen weg durchs geäste.

das wasser tobt ungebändigt durch schluchten und stösst mit ungebrochener kraft um oder mit, was die fluten erwischen. schnee- und schlammmassen donnern ungebändigt, alles mit sich reissend, zu tale. ersticken und begraben mit unheimlicher kraft. der wind als willkommene abkühlung oder mittel zum zwecke kann zu einem ungebändigten faustschlag werden und um ecken herum pfeifen, zum biegen, brechen oder zerschlagen. die tiere gehen ungebändigt aufeinander los, hetzen und jagen durch steppen. die natur mit ihrer ungebändigten energie, kraft und unberechenbarkeit. immer wieder versucht, von menschenhand in die schranken zu weisen!

Der Mond

Sind Sie mondsüchtig? Ist der Mond schuld an Ebbe und Flut? Kennen Sie den vollständigen Text des Lieds «Der Mond ist aufgegangen»? Was kommt Ihnen beim Stichwort «Honeymoon» in den Sinn? Und was ist ein Mondkalb? Oder haben Sie schon mal den Mann im Mond gesehn? Was hat der Mond mit dem Montag zu tun? Haben andere vielleicht sogar manchmal den Eindruck, Sie lebten hinter dem Mond?

Warum habe ausgerechnet ich den Mond erwischt? Ich könnte mich doch zu Wörtern äussern wie «Die Politik», «Das Vertrauen», «Das Geld» …

Seit langem wirkt in mir die dritte Strophe des eingangs genannten Lieds – nein, nicht jenes von Gus Backus, sondern das von Matthias Claudius – nach: Seht ihr den Mond dort stehen? Er ist nur halb zu sehen und ist doch rund und schön. So sind wohl manche Sachen, die wir getrost belachen, weil unsre Augen sie nicht sehn. Wie schön wäre es, wenn wir uns in dieser schnelllebigen Zeit ab und zu diese Strophe vor Augen hielten und überlegten, ob wir wirklich alles gesehen haben, auch das nicht hell Beleuchtete, Grelle, Vorlaute? Wenn wir uns bemühten, auch das Beschattete, Bescheidene, Stille zu sehen – halt das Ganze eben …

Liebeserklärung

Dass Liebe Erklärungen bedarf, deutet auf Unerklärbares. Dabei wollen alle, von Liebe ergriffen, geschüttelt, verzaubert, verwundert, verwirrt – und noch mehr und noch weniger – nichts anderes, als das Beglückende so klar als möglich mitteilen. Mir weckt das Wort Erinnerungen an grosse Romane vergangener Zeiten. Keinem heutigen Autor gelängen solch göttlich zu lesende Liebeserklärungen. In unserer herrlich medialen Zeit wird zur Tat geschritten, zuweilen geht das Schreiten flink, ohne Einschluss von Bedenkzeit. Und im realen Leben? Sind wir – trotz aller Spielmöglichkeiten – im Liebeserklärungs-Notstand? Dafür ist das Wort allein vielfältig anwendbar. Es geht an Katzen, an den Sommer, an das Leben, an den Sport, und, fast nicht hörbar, an Sie und an mich. Erbarmt sich unsere Maschine, liefert Programmierbares? Die einzige individuell mögliche Erklärung aber ist ein Sprung ohne Sicherung.