Wo hört die Stadt auf, wo fängt das Land an? Macht Stadtluft frei oder Landluft froh? Wo findet sich der mobile Mensch in der zersiedelten Dorfstadt wieder? Aus Anlass des Appenzeller Olma-Gastauftritts hat die Ausserrhodische Kulturstiftung gemeinsam mit der Gesellschaft für deutsche Sprache und Literatur GdsL sechs AutorInnen aus Ausser- und Innerrhoden bzw. aus St. Gallen eingeladen, je einen kürzeren Text zu verfassen im Assoziationsraum von ländlichem und urbanem Lebensgefühl. Die AutorInnen sind: Christine Fischer, Gabriele Clara Leist, Giuseppe Gracia, David Keller, Lorenz Langenegger und Lisa Tralci.
Mein Textbeitrag:
A. ist überall
Reflexionen „im Spagat“ zwischen Stadt und Land
Einmal kam ein anonymer Brief. Jemand wünschte mich weg. Mein unschweizerischer Name hatte eine falsche Fährte gelegt. Gehen Sie dorthin, wo Sie herkommen! Das wäre dann in meinem Fall weder Skopje, Lecce noch Accra. Es wäre das Toggenburg, ein Bauernhof der die nächste Agrarreform kaum überleben wird, ein Ort zwischen den Ausläufern der Wilket und einem Hügel mit Kreuz. Wiesen und Wälder, braune Kühe mit Hörnern, um elf Uhr beteten die Katholiken den Engel des Herren, Fräulein Fromm sei Dank Jede kennt jeden, vor den Gemeinderatswahlen trugen wir Pamphlete aus, spätabends, frühmorgens. Erst viel später habe ich erfahren, dass ich mich einreihe bei denen, die sich fremd fühlten, mich haben sie ausgesetzt, ausgeliehen, verloren. Eines Tages werden sie wiederkommen, weinend und zerknirscht, mich in ihre Arme schliessen und dorthin führen, wo Zeit und Ansprache sind. Sie sind nie erschienen, ich habe mich in die Bücher fallen lassen, weggeträumt aus der beengten Welt. Die Tiere mochten mich, ich sie auch – entweder werde ich einen Zoo haben oder in die Mission nach Afrika gehen. Gut vierzig Jahre später besteht der Zoo aus einer selten anwesenden Katze, aus der Sache mit Afrika ist nichts geworden.
Seit fast zwei Jahren lebe ich in A. Es gibt immer wieder Tage, an denen ich fliehen will. Nicht zurück an den Ort, an dem ich fast dreissig Jahre gelebt habe. Der Fluchtort hat keinen Namen oder viele, ist abrufbar als Befinden, als Ort, an dem Klopfen und Drängen verstummen, als Weltpunkt, dem eine Morgenhoffnung entwächst. Das Haus in dem ich heute lebe, ist alt. Ein Holzhaus, dessen Vorderseite von Reben überwachsen ist. Eine grüne Höhle, ein Schneckenhaus, drei Zimmer in denen das Augenherz zur Ruhe kommen kann. Ich habe das Haus gewählt, nicht aber den Ort A. Zum Zeitpunkt der Wahl habe ich dem Haus eine grössere Bedeutung zugemessen als der Umgebung. Später dann, als ich Kopf und Glieder dem Licht entgegenreckte, bin ich erschrocken. Wohin bin ich geraten? Jede Fahrt mit dem Siebner ist eine erneute Sichtbarmachung von Widerwärtigkeiten. Nicht erst nach der Brücke wird sichtbar, was entfesselter Trieb unter diese Sonne zu stellen wagt. Möbelhäuser (billigste Macharten sichern schnellen Verschleiss und Wiedererwerb, nachhaltig sind vor allem erstickte Böden und Abfallberge). In riesigen Wohnzimmern präsentieren sich Blechkarrossen, blitzblank und staubgeschützt warten sie auf Käufer mit und ohne Geld. Ihre Verkäufer reden nicht vom täglichen Verkehrsinfarkt, ebenso wenig von arg belasteten Familienbudgets, schlechter Luft und kaum von Menschen ohne Dach über dem Kopf. Ich schweige zur wachsenden Fussballarena, zu McDrive und dem überdimensionalen Kinosaal, auch weiter dorfeinwärts wird gebaut, so als würde jede Bautätigkeit nächstens verboten. Die Häuser – über Geschmack lässt sich nur bis zu einem bestimmten Punkt streiten – fressen sich in eine untergehende Agrarlandschaft, bald wird auch den letzten Bauern der Atem genommen. Was weiter kein Problem ist, eingekauft wird meist dort, wo es am billigsten ist, Hauptsache der eigene Rasen bleibt schön grün.
A. ist überall. Seine Einfahrtsschneise ist Synonym für eine Zeit, der die Bodenhaftung verloren gegangen ist, in der das Mass längst nicht mehr Menschenmass ist. Wenn ich mich heute in A. nicht zuhause fühle, ist das nicht nur diesem Ort zuzuschreiben. Es ist meine Fremdheit in einer Welt, die sich auf Kosten aller und zur Bereicherung weniger so verändert, dass auch die eigentlich kurze Dauer eines mittleren Menschenlebens nicht zu beseitigende Spuren hinterlässt. Negativspuren einer Welt, der das stimmige Ganze abhanden gekommen ist, der zu oft jede ästhetische Proportion fehlt, in vielerlei Hinsicht ein Bild der Masslosigkeit. Es wird – lassen Sie mich dieses altmodische Wort verwenden – gesündigt, ganz andere Sünden als jene lässlichen, die man mich vor gut vier Jahrzehnten im Katechismus lehrte. Wir partizipieren an Raubbau und Verschwendung und tun dies auf mehreren Ebenen. So korrespondiert die Dynamik der Grenzenlosigkeit mit einer anderen, nicht weniger unheilvollen Entwicklung: jener der Entwertung des Menschen. Er ist Knetmasse geworden, unabhängig davon, ob er sich hinter einem Bankschalter oder in der industriellen Käseherstellung verdingt. Und: immer weniger kann er oder sie sich darauf verlassen, nach Arbeitsschluss in den Beziehungsschoss zu schlüpfen. Die zarten Rispen der Zuneigung sind anfällig geworden, haben immer öfter kurze Verfalldaten.
Mich beschleicht Unbehagen, weil ich der wild gewordenen Basis kaum entfliehen kann, weil sich keine Fluchttore öffnen. Die kleinen Fluchten verhüllen ihre Kurzatmigkeit längst nicht mehr, sie träufeln kein Wohlseinsbalsam ins Notland. Und: Ich kann mich nicht freisprechen, allein die Tatsache meiner temporären Weltanwesenheit hinterlässt Schutt: ich bin Teil dieser Achterbahn, fahre mit, werde mitgefahren. Der Eindruck, dass den von uns gewählten Kommandozentralen die Leinen entglitten sind, dass ein paar wenige Weltkapitäne die Macht ballen, befällt mich nicht nur bei absentem Schlaf.. Wie sonst soll diese irre Rotation erklärt werden? Mehr, schneller und effizienter, ist das Zeitcredo. Viele von uns sind in Verhältnisse und Wirklichkeiten geschlüpft, die sich später als Hamsterrad entpuppt haben. Es gilt, mühsam Erworbenes zu verteidigen und vor allem zu erhalten, das Haus, die jährlichen Ferien, ein Auto, die Freizeitvergnügen und nicht zuletzt den Arbeitsplatz. Es gilt, sich einzureihen, mitzumachen, mitzuhalten und es werden auch dort Bücklinge gemacht, wo einem die Scham Röte ins Gesicht treiben müsste. Mann und Frau verdingen sich, in lebensenergiefressenden Arbeitsverhältnissen und an eigenhändig geschaffene Luxusbedürfnisse.
Die dunkle Weltsicht hindert eine in A. wohnende Grossmutter nicht daran, von anderer Ansiedelung zu träumen. Die Entscheidung zwischen urban und ländlich spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Entscheidend wären allseits verträgliche (oder sollte ich sagen verträglichere?) Lebensformen, eine Ästhetik des Masses, Entschleunigung, die Befähigung zur Langsamkeit. Ohne einer kargen Weltabgewandheit das Wort reden zu wollen, sehe ich die Reduktion unserer Ansprüche als einzige Möglichkeit, den vorzeitigen Erstickungstod zu umgehen. Denn Natur und Mensch zeigen heute ähnliche Symptome: sie und er hecheln, sind erschöpft oder ausgebrannt. Mehr ergibt nicht automatisch mehr. Weniger zu haben, das Wenige in gerechter Qualität und weniger hektisch zu agieren, scheint zur Überlebensfrage zu werden. Als alternder Mensch ziehe ich Zeit dem Geld vor – ich will meine Zeit möglichst eigengestalten, ohne allzu grosse Abhängkeiten von Besitz, Zeitgeist oder Moden. Ich träume von Einordnung und Proportion in der Lebensmitwelt; von einer Ästhetik der Einfachheit; von Menschen, die Zeit zum Nachdenken und Abwägen haben. Von Menschen, die in ihrem Hiersein Gestaltungsraum fordern und entdecken und sich nicht ausschliesslich an die Verding- und Konsumkette legen lassen wollen. Ich träume.
Die Reibungen, schmerzhafte Aussenreize und mein Unbehagen rufen auch nach schreibender Notiznahme. Nach-denken über die eigenen Bewegungen im besprochenen Spannungsfeld. Nach-denken fordert Zeit und Raum, nach-denken meint die Reflexionsbemühung über den Augenblick hinaus. Die Lebensspanne und das eigene Kreisen wollen in einen grösseren Zusammenhang gesetzt werden. Schreiben geschieht also auch aus dem titelgebenden Spagat: als Versuch, in überbautem Ödland zu überleben, es auszuhalten, dass Geldinteressen, Scheinenwollen und die Gleichgültigkeit einer tv-umnebelten, apathischen Masse nicht nur meinen Lebensraum sondern auch den kommender Generationen ätzen und be-rauben. Aus dem Wissen um Lichtspiele im Alpstein, den feuchten Erdgeruch im Wald, aus der Melancholie des Unterwegs-seins und ja, vielleicht auch aus einer Art Hoffnung, es möge noch Zeit sein, nicht zu spät sein, nicht alles verloren, was den Menschen über seine Gier hinaus Mensch werden und sein lässt. – Ich will hoffen.
September 2006/Lisa Tralci