Die zweite Möglichkeit

Es gibt Tage da stelle ich mir vor, noch einmal in der Reihe zu stehen. Dort wo frau wartet, bis ihr ein Beruf oder eine Tätigkeit zuteil oder zugeteilt wird. Noch einmal eine ganz andere Welt flechten, nicht nur an Tagträumen feilen und an ersehntem Dasein in Gedanken nippen, nein, sich entscheiden, es tun, mit Haut und Haar. Weder von Zweifeln durchfurcht noch mit der unsichtbaren Waage, gut oder nicht gut.

Seit einigen Tagen weiss ich es: noch einmal vor Wahl gestellt, ich würde Fährfrau. Eine, die den Kahn oder ein Boot von der einen auf die andere Flussseite steuert. Eine einfache, klare Tätigkeit. Ein Glockenruf kundet vom Wunsch, ans andere Ufer zu gelangen. Ich würde meine Fahrgäste kurz mustern, ihnen mit einer knappen Bewegung, sie käme aus dem Handgelenk, das Zeichen geben, einzusteigen. Mein geübter Blick weiss, wem ich dazu die Hand reichen muss. Der Obolus für die Überfahrt wird vor dem Antritt der Reise entrichtet. Ich habe den Preis auf eine Tafel drucken lassen. Ein klarer Betrag für eine klare Leistung. Niemand zögert, niemand versucht zu feilschen. Es gibt weder Zechpreller noch blinde Passagiere. Ich habe den Überblick. Obwohl ich als einzige auf diesem Boot über meinem Sitz ein kleines Sonnensegel habe, ist meine Haut leicht gebräunt. Mit fast unmerklichem Kopfschütteln bedeute ich den Wartenden, dass mein Boot voll ist. In einer Viertelstunde bin ich wieder da. Fast alle warten, bis ich zurück bin.

Ich löse das Tau, stosse vom Ufer ab. Längst kenne ich die Sprache des Flusses. Sein Murmeln und seinen Sog, seine Tiefen und Strömungen. Ich weiss um das Gehabe der Wasservögel, kenne den eitlen Erpel, das Zischen des Höckerschwans, die Zwischenlappen der Haubentaucher. Die Fische sind weniger geworden. Ab und zu eine Regenbogenforelle, seltener eine Äsche. Wenn das Boot seine Fahrrinne gefunden hat, lese ich Gesichter. Entdeckermienen und Angstaugen. Scheinbar gleichgültige Masken. Ich sehe die Sportlichen, ausgerüstet zum Bergzeitfahren; alte Paare mit Gesichtern die sich immer ähnlicher werden; Verliebte und Liebende, hagere Einzelgänger. Es kommt vor, dass jemand das Gespräch sucht. Die Fragen ähneln sich. Nein, Angst kenne ich nicht. Ich weiss, wann ich mit meinem Boot die Wasserhaut durchpflügen darf und wann nicht. Im Winter lese ich viel. Meistens Bücher über Pflanzen und Tiere. Über die Alpenfaltungen, Urmeere und die Steine.

Die Überfahrt dauert nur ein paar Minuten. Die Gesichter der Ängstlichen werden weicher. Sie sind die ersten, die aufstehen. Ich lege an, befestige das Tau und verabschiede mich. Manchmal steige ich aus, mache ein paar Schritte dem Ufer entlang, ab und zu hebe ich Federn grosser Vögel auf. Die Glocke ruft.

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