Grenzerfahrungen

An der bulgarischen Grenze, 1970: Ich werde zurückgeschickt, weil meine Haartracht – mittlerweile sehe ich aus wie ein Hippie – nicht mehr mit dem Bürstenschnitt des Pubertierenden auf dem Passfoto übereinstimmt.

An der österreichischen Grenze, 2004: Immer wieder bin ich überrascht, dass die Schweiz genau bis zur Mitte der Rheinbrücke geht und dahinter – genau an dieser Linie – ein anderes Land mit einem andern Dialekt, anderem Umgangston und anderen Uniformen – nicht beginnt, sondern schon da ist.

Ich selbst übersteige die Grenze, bewusst werdend und beinahe frohlockend, offenbar ein ganz besonderer Schritt.

Wohin soll es denn gehen?
Galilei durchsticht mit dem Fernrohr die Grenze der Erde, Faust durchschreitet die Grenze der Vernunft und Odysseus durchmisst das Meer, um – nach Hause zu gelangen.

Gibt es Grenzen als Ende? Gibt es eine Grenze als Ende meiner Wünsche, meines Selbst? Ja, sagt Horaz, das, was genug ist, das ist die Grenze, nämlich das Mass. Wie finde ich das?

Und wie kann ich die Endlinien meines Verstehens überschreiten?
Ich spüre zwischen dir und mir eine Grenze; kann ich auch sie überschreiten, bewusst frohlockend?

Himmelszelt

Himmelszelt bedeutet für mich Unendlichkeit. Endlos, grenzenlos die Fülle von Möglichkeiten und dennoch vermittelt es das Gefühl von Geborgenheit. Ein riesiges Zelt unter dem alle, ob Arm oder Reich, Schwarz oder Weiss, gleich welcher Sprache zu Hause sind. Jeder Mensch im Vergleich dazu nur ein winziges Sandkorn.

Himmelszelt – ich blicke hinauf, manchmal mehr und manchmal weniger und weiss doch, es ist immer da. Es ist nie launisch; das Wetter macht es abwechslungsreich und zeigt es in den verschiedensten Kleidern. Mal strahlend blau, mal trüb und wolkenverhangen, mal mit weissen Schäfchenwolken gespickt oder mit Schleiern überzogen. Verschiedene Kleider und verschiedene Farben. Rosa beim Sonnenaufgang, blau beim schönsten Wetter, gelblich bei Hagel, purpurrot bei Sonnenuntergang. Auch hier wieder eine Unmenge von Möglichkeiten. Es begleitet mich Tag für Tag, ja sogar in meinen Träumen. Himmelszelt, sei weiter Insel der Geborgenheit.

Schatzkammer

Für mich ein reichlich materialistischer Begriff. Gold, Silber, Edelsteine, Perlenketten – ein Hauch von Reichtum. Verheissungsvoll kündend vom sorglosen Leben. Den Lebensunterhalt bestreiten können. Etwas Polster haben, ist für mich beruhigend. Mehr nur Belastung. Täglich die Börsenkurse beobachten, die erfolgreichsten Investitionen tätigen, Finanzberatungen beanspruchen. Blockierende Angst, Werte zu verlieren.

Ich möchte meine Zeit sinnvoller einsetzen: Wenn ich nur für eine kurze Weile den kleinen, unscheinbaren Dingen im Leben Beachtung schenken kann wie etwa dem Summen der Bienen oder dem Gesang der Vögel, dem Plätschern des Brunnens, dann kann ich meine innere Schatzkammer entdecken. Eine innere Freiheit voll Freude und Dankbarkeit, die alles Materielle auf dieser Welt vergessen lässt. Jetzt nicht schmunzeln. Ein Versuch lohnt sich.

Netze

Meine Tochter hat kürzlich eine schöne Kurzgeschichte mit dem Titel «Das Flattern des Netzes» geschrieben. Angeregt wurde sie durch einen Literaturwettbewerb zum Thema «Netz» von ostschweizerinnen.ch. Die Geschichte erzählt von zwei Fussball spielenden Freundinnen und ihren Gefühlen, wenn der Ball im Tornetz landet. Handelt es sich hier um ein ganz handfestes Netz, ist ostschweizerinnen.ch ein virtuelles FrauenNetzWerk, das Ostschweizerinnen online vernetzt.

Diese Anwendungs- und Bedeutungserweiterung ist ein Spiegel für den Wandel und die Modernisierung unserer Gesellschaft: Von den Fischernetzen über die Eisenbahn- und Stromnetze zu den Datenbanknetzen. Die virtuellen Netze dominieren heute, und umgangssprachlich sind die Einkaufs- und Haarnetze weit gehend von sozialen und neuronalen Netzen verdrängt worden. Würden nicht beim Fussball- und Tennisspiel auch heute noch geknüpfte Netze gebraucht, so wären uns die realen Netze und ihre ursprüngliche Bedeutung schon fast abhanden gekommen.

Zuversicht

Das Wort «Zuversicht» ist mir von der Redaktion zugeteilt worden. Es ist ein gutes, starkes Wort. Als Kind hörte ich es zum ersten Mal im Religionsunterricht. Man sang: «Jesus, meine Zuversicht.» Es ist mir lange ein Wort der Kirche geblieben. «Hoffnung» war mir vertrauter. Jeder hofft immer wieder, auch wenn er so oft enttäuscht wurde. Das «Vielleicht» begleitet die Hoffnung. Sie ist die unzuverlässigere Schwester der «Zuversicht.»

In all den Jahren, die vergangen sind bis ich neunzig wurde, ist die Zuversicht immer öfter aus der Kirche zu mir in den Alltag gekommen. Dort ist sie geblieben. Wem sie mehr als nur ein leeres, wenn auch frommes Wort ist, dem gibt sie Boden unter den Füssen, stärkt den vom Leben gebeugten Rücken und lässt den Kopf sich erheben. Das «Vielleicht» weicht der «Gewissheit», dass es eine Kraft gibt, die uns stärkt und auch hilft, Übles zu ertragen. Wenn mir keine Hoffnung mehr bleibt, dass mir all die Pülverlein, Tabletten, Salben und Spritzen des Arztes zum Überleben helfen, soll mir doch die Zuversicht bleiben, dass ich dorthin gehen darf, wo das «grosse Erbarmen» auf mich wartet.

Rückkehr

Ist unser Schicksal von Erinnerungen, Erfahrungen oder Zufall gestaltet?

Es war irgendwie eine instinktive Wahl von meiner Heimat in England in die Schweiz zu fliegen, als ich die Entscheidung traf, meine ersten Ferien alleine im Ausland zu verbringen. Ich war überhaupt nicht enttäuscht. Die herrliche Landschaft, freundliche Leute, saubere Umwelt und Klang von den Kuhglocken haben alle einen sehr positiven Eindruck hinterlassen. Ich war einfach entzückt. Trotzdem war es 20 Jahre später, bevor mein neues Hobby Skilaufen mich zurück in die Schweiz brachte. Danach ging ich in die Volkshochschule in England, um mein Schriftdeutsch zu verbessern. War es vielleicht Zufall, dass ich acht Jahre später jemand dort kennen gelernt habe, die mich eingeladen hat mitten in den sanften Hügeln vom Appenzellerland Ferien zu verbringen? Was für eine berauschende Landschaft! Es war, als ob das Land mich immer zurückrief und endlich folgte ich! Ich wohne jetzt in Niederteufen und kann einen Teil der Freude zurückgeben, was die Schweiz mir gegeben hat. Ich lehre Englisch! Ich kehrte zurück nicht zum Geburtsland, sondern zum Platz wo ich eigentlich hingehöre und ich mich zu Hause fühle.

Wachgeküsst

Wachgeküsst. Wachgeküsst?

Bin ich endlich aufgewacht, auf die Welt gekommen, weiss ich endlich, um was es geht? Lasse ich mich nicht mehr täuschen, also bin ich ent-täuscht? Nein, so geht das nicht! Wachgeküsst ist doch so ein schönes Wort, romantisch, positiv. Dornröschen wurde vom Prinzen wachgeküsst. War es darüber glücklich oder hätte es lieber weitergeschlafen? Jawohl, ich möchte wachgeküsst werden und fände mich im Paradies. Es wäre so friedlich, so schön, so wunderbar. Meine Seele könnte singen, springen, tanzen. Wie man so schön sagt: Die Seele baumeln lassen. Wache Glückseligkeit! Wann wird die Menschheit wachgeküsst? Keine Kriege mehr, kein Neid, kein Hunger, keine geldgierigen Machthaber, keine abzockenden, über Leichen gehenden Manager, keine Gewalt mehr gegen Schwächere, anders Denkende, Fremde, Frauen und Kinder. Also wachgeküsst zum Handeln, etwas tun, wirken, bewirken! Oder ist das nur eine wachgeküsste Illusion

Kristallisationspunkt

Einer von 286 Schreibern sucht einen Kristallisationspunkt.

In diesem Fall muss das die Appenzeller Zeitung sein, die die 286 Aufträge erteilt, um zu einem Werk zu gestalten. Eine Vielfalt von Ausdrücken und Ideen bewegen sich auf die Redaktorinnen zu. So wie Kristalle sich aus Lösungen durch Erhitzen oder Kühlung wegentwickeln, formen sich Diskussionspunkte. Der Punkt ist der kleinste mögliche Gegenstand auf der Welt, den es gibt (ein Punkt ist ein Winkel, dem man beide Schenkel ausgerissen hat). Unendlich viele Punkte bestimmen unser Leben und bewirken, dass aus einer Kristallisation eine Person wird, die es so nur einmal gibt. Die Kristallisationspunkte sind ein Ziel vieler Ziele, etwas in einem Arbeitsprozess herzustellen, das Land zu bebauen, Gärten zu gestalten, Häuser zu erstellen, – Pflege und Erhaltung der Natur, des Menschen, der Tiere, die Schulung und Bildung, die Technik zur Erleichterung des Arbeits- prozesses, die Zeitgebung allen menschlichen Wirkens in einer allumfassenden Schöpfung. In den paar Zeilen liegen so viele Kristallisierungspunkte, die einen begeistern können, mit Freuden seiner Aufgabe gerecht werden, bei Klein und Gross, bei Jung und Alt, die Kristallisierungspunkte – Werden – Leben – Ableben – als Sinn und Ziel des Lebens zu verstehen.

Geruch

Geruch – dieses Wort weckt unzählige Gedanken in mir. Aber ganz spontan bleiben sie beim Heuen stehen. Ich rieche das frische Heu; besonders beim abendlichen Spaziergang spüre ich den Geruch ganz intensiv. Stehen zu bleiben und diesen Geruch bewusst in sich aufzunehmen und wirken zu lassen – das ist Balsam für Körper, Seele und Geist. Es lohnt sich auf jeden Fall, sich diese Zeit zu nehmen, denn am nächsten Abend steigt uns ein wesentlich unangenehmerer Geruch in die Nase – die Gülle ist ausgeführt worden. Da wir dies ohne spezielle Aufmerksamkeit wahrnehmen, wird meist gelästert, ohne daran zu denken, dass Gülle zum erneuten Wachsen von Gras und somit duftendem Heu führt. Also kritisieren wir nicht immer vorschnell über Gerüche, die uns nicht passen, denn die meisten von ihnen haben wohl ihre Daseinsberechtigung. Die ganze Palette von Gerüchen, von anziehend bis faszinierend über alltäglich bis hin zu abstossend oder gar warnend wahrzunehmen, ganz bewusst, ist doch etwas Einmaliges!

Geburtshilfe

Der Flaum seiner Geschwister war schon längst trocken, als es dem Kücken gelang, ein winziges Loch in die Schale des Eis zu picken.

Endlich! Doch dann zogen sich die Stunden endlos dahin. Sofia kniete neben dem Brutapparat, harrte und bangte. Es tat sich nichts. Das Loch blieb, wie es war.

Gegen Mitternacht wurde es im Ei immer stiller. Die Kraft des ungeborenen Wesens schien sich zu erschöpfen.

Sofia begann im Raum auf und ab zu gehen, die Hände tief in den Taschen vergraben, starrte bald auf das Ei, bald auf die Wanduhr.

Dann hielt sie es nicht mehr aus. Vorsichtig zupfte sie Schalenstück um Schalenstück vom Ei, wollte Geburtshilfe leisten. Das Kücken streckte mutig den Kopf in die Welt des kalten Neonlichtes.

Aber so, wie es zu schwach gewesen war, um sich aus dem Ei zu schälen, so war es nun zu schwach für das Leben.

Als der neue Tag anbrach, legte Sofia ihren Kopf auf die Arme und weinte um das ungelebte Leben.