Archiv der Kategorie: Fremde Texte

Zuversicht

Das Wort «Zuversicht» ist mir von der Redaktion zugeteilt worden. Es ist ein gutes, starkes Wort. Als Kind hörte ich es zum ersten Mal im Religionsunterricht. Man sang: «Jesus, meine Zuversicht.» Es ist mir lange ein Wort der Kirche geblieben. «Hoffnung» war mir vertrauter. Jeder hofft immer wieder, auch wenn er so oft enttäuscht wurde. Das «Vielleicht» begleitet die Hoffnung. Sie ist die unzuverlässigere Schwester der «Zuversicht.»

In all den Jahren, die vergangen sind bis ich neunzig wurde, ist die Zuversicht immer öfter aus der Kirche zu mir in den Alltag gekommen. Dort ist sie geblieben. Wem sie mehr als nur ein leeres, wenn auch frommes Wort ist, dem gibt sie Boden unter den Füssen, stärkt den vom Leben gebeugten Rücken und lässt den Kopf sich erheben. Das «Vielleicht» weicht der «Gewissheit», dass es eine Kraft gibt, die uns stärkt und auch hilft, Übles zu ertragen. Wenn mir keine Hoffnung mehr bleibt, dass mir all die Pülverlein, Tabletten, Salben und Spritzen des Arztes zum Überleben helfen, soll mir doch die Zuversicht bleiben, dass ich dorthin gehen darf, wo das «grosse Erbarmen» auf mich wartet.

Rückkehr

Ist unser Schicksal von Erinnerungen, Erfahrungen oder Zufall gestaltet?

Es war irgendwie eine instinktive Wahl von meiner Heimat in England in die Schweiz zu fliegen, als ich die Entscheidung traf, meine ersten Ferien alleine im Ausland zu verbringen. Ich war überhaupt nicht enttäuscht. Die herrliche Landschaft, freundliche Leute, saubere Umwelt und Klang von den Kuhglocken haben alle einen sehr positiven Eindruck hinterlassen. Ich war einfach entzückt. Trotzdem war es 20 Jahre später, bevor mein neues Hobby Skilaufen mich zurück in die Schweiz brachte. Danach ging ich in die Volkshochschule in England, um mein Schriftdeutsch zu verbessern. War es vielleicht Zufall, dass ich acht Jahre später jemand dort kennen gelernt habe, die mich eingeladen hat mitten in den sanften Hügeln vom Appenzellerland Ferien zu verbringen? Was für eine berauschende Landschaft! Es war, als ob das Land mich immer zurückrief und endlich folgte ich! Ich wohne jetzt in Niederteufen und kann einen Teil der Freude zurückgeben, was die Schweiz mir gegeben hat. Ich lehre Englisch! Ich kehrte zurück nicht zum Geburtsland, sondern zum Platz wo ich eigentlich hingehöre und ich mich zu Hause fühle.

Wachgeküsst

Wachgeküsst. Wachgeküsst?

Bin ich endlich aufgewacht, auf die Welt gekommen, weiss ich endlich, um was es geht? Lasse ich mich nicht mehr täuschen, also bin ich ent-täuscht? Nein, so geht das nicht! Wachgeküsst ist doch so ein schönes Wort, romantisch, positiv. Dornröschen wurde vom Prinzen wachgeküsst. War es darüber glücklich oder hätte es lieber weitergeschlafen? Jawohl, ich möchte wachgeküsst werden und fände mich im Paradies. Es wäre so friedlich, so schön, so wunderbar. Meine Seele könnte singen, springen, tanzen. Wie man so schön sagt: Die Seele baumeln lassen. Wache Glückseligkeit! Wann wird die Menschheit wachgeküsst? Keine Kriege mehr, kein Neid, kein Hunger, keine geldgierigen Machthaber, keine abzockenden, über Leichen gehenden Manager, keine Gewalt mehr gegen Schwächere, anders Denkende, Fremde, Frauen und Kinder. Also wachgeküsst zum Handeln, etwas tun, wirken, bewirken! Oder ist das nur eine wachgeküsste Illusion

Kristallisationspunkt

Einer von 286 Schreibern sucht einen Kristallisationspunkt.

In diesem Fall muss das die Appenzeller Zeitung sein, die die 286 Aufträge erteilt, um zu einem Werk zu gestalten. Eine Vielfalt von Ausdrücken und Ideen bewegen sich auf die Redaktorinnen zu. So wie Kristalle sich aus Lösungen durch Erhitzen oder Kühlung wegentwickeln, formen sich Diskussionspunkte. Der Punkt ist der kleinste mögliche Gegenstand auf der Welt, den es gibt (ein Punkt ist ein Winkel, dem man beide Schenkel ausgerissen hat). Unendlich viele Punkte bestimmen unser Leben und bewirken, dass aus einer Kristallisation eine Person wird, die es so nur einmal gibt. Die Kristallisationspunkte sind ein Ziel vieler Ziele, etwas in einem Arbeitsprozess herzustellen, das Land zu bebauen, Gärten zu gestalten, Häuser zu erstellen, – Pflege und Erhaltung der Natur, des Menschen, der Tiere, die Schulung und Bildung, die Technik zur Erleichterung des Arbeits- prozesses, die Zeitgebung allen menschlichen Wirkens in einer allumfassenden Schöpfung. In den paar Zeilen liegen so viele Kristallisierungspunkte, die einen begeistern können, mit Freuden seiner Aufgabe gerecht werden, bei Klein und Gross, bei Jung und Alt, die Kristallisierungspunkte – Werden – Leben – Ableben – als Sinn und Ziel des Lebens zu verstehen.

Geruch

Geruch – dieses Wort weckt unzählige Gedanken in mir. Aber ganz spontan bleiben sie beim Heuen stehen. Ich rieche das frische Heu; besonders beim abendlichen Spaziergang spüre ich den Geruch ganz intensiv. Stehen zu bleiben und diesen Geruch bewusst in sich aufzunehmen und wirken zu lassen – das ist Balsam für Körper, Seele und Geist. Es lohnt sich auf jeden Fall, sich diese Zeit zu nehmen, denn am nächsten Abend steigt uns ein wesentlich unangenehmerer Geruch in die Nase – die Gülle ist ausgeführt worden. Da wir dies ohne spezielle Aufmerksamkeit wahrnehmen, wird meist gelästert, ohne daran zu denken, dass Gülle zum erneuten Wachsen von Gras und somit duftendem Heu führt. Also kritisieren wir nicht immer vorschnell über Gerüche, die uns nicht passen, denn die meisten von ihnen haben wohl ihre Daseinsberechtigung. Die ganze Palette von Gerüchen, von anziehend bis faszinierend über alltäglich bis hin zu abstossend oder gar warnend wahrzunehmen, ganz bewusst, ist doch etwas Einmaliges!

Geburtshilfe

Der Flaum seiner Geschwister war schon längst trocken, als es dem Kücken gelang, ein winziges Loch in die Schale des Eis zu picken.

Endlich! Doch dann zogen sich die Stunden endlos dahin. Sofia kniete neben dem Brutapparat, harrte und bangte. Es tat sich nichts. Das Loch blieb, wie es war.

Gegen Mitternacht wurde es im Ei immer stiller. Die Kraft des ungeborenen Wesens schien sich zu erschöpfen.

Sofia begann im Raum auf und ab zu gehen, die Hände tief in den Taschen vergraben, starrte bald auf das Ei, bald auf die Wanduhr.

Dann hielt sie es nicht mehr aus. Vorsichtig zupfte sie Schalenstück um Schalenstück vom Ei, wollte Geburtshilfe leisten. Das Kücken streckte mutig den Kopf in die Welt des kalten Neonlichtes.

Aber so, wie es zu schwach gewesen war, um sich aus dem Ei zu schälen, so war es nun zu schwach für das Leben.

Als der neue Tag anbrach, legte Sofia ihren Kopf auf die Arme und weinte um das ungelebte Leben.

Nomaden

Von Wind und Wetter gehärtete, braungebrannte Menschengesichter tauchen als Bild auf, wenn von Nomaden die Rede ist. Und die Gedanken drehen sich um ein wanderndes Hirtenvolk, das in einer kargen Sand- und Steppenlandschaft nach Nahrung und Wasser für sich sowie sein Vieh sucht, und da dann vorübergehend seine Zelte aufschlägt. Eine romantisch anmutende Lebens- und Kulturform erscheint im ersten Moment auf, doch schnell kommt die Einschränkung: Romantik ja, aber wohl nur auf Zeit.

Schwer einzustufen bleibt, ob das Wort «Nomaden» mehr positiv oder negativ zu besetzen ist. Da macht sich das Gefühl von Freiheit, Zeit haben, ein- vernehmlichem Leben mit der Umwelt, Ruhe und innerem Frieden breit. Doch im gleichen Atemzug denkt man an Entbehrung, Abgeschiedenheit, andauernden Überlebenskampf für Mensch und Tier. Für uns eine erstrebenswerte Lebens- und Kulturform – doch höchstens als Ferienerlebnis!

Weinberg

Auslöser: Das Wort Weinberg bringe ich mit einer fröhlichen Menschenrunde zusammen. Nach getaner Arbeit im Rebberg den Feierabend geniessen, zufrieden mit der Ernte – dem Wimmet – und schon fliesst in Gedanken ein herrlicher Tropfen durch die Presse, schlussendlich in die Flaschen.

Als Zweites bringe ich den Weinberg mit der biblischen Geschichte aus meiner Jugendzeit in Zusammenhang. Nur mit Einsatz, Hege und Pflege erreicht man das gewünschte Ziel. Die Winzer hoffen täglich, dass kein Sturm oder Hagelwetter die Ernte zunichte macht. Wir Menschen können auch nur dank Pflege, liebevollem Begleiten, gestützt werden, einst Früchte tragen – analog zum Weinberg.

Lebensqualität

Hiesse es  Schande oder Fairness, das mir zugedachte Wort; hiesse es  Heimat oder Konjunktur, ich wüsste ebenso wenig Rat. Im Gegensatz zu Wörtern wie  Schwester oder Lebertran, da wär Auskunft leicht zur Hand; auch zu mundartlichen Appellen wie «schaad!» oder «Wonderfitz!», auch zu Flurnamen wie  Najenriet oder  Steingacht (Martin Hüsler bespricht sie der Reihe nach im Appenzeller Magazin), da wären Überlegungen rasch auf der Zunge …

Das mir zugewiesene Wort lautet aber Lebensqualität. Ein Wort für alles und jedes. Ein Wort für nichts. Also wertlos. Solche Vokabeln fallen zwischen zwei Menschen so gut wie nie, bedeuten zwischen Autor/Redaktorin in ihrer pp. Leserschaft so gut wie nichts. Es leben ja auch Moose, Birken, Eichhörnchen und Isländerinnen. Was wäre je ihre Qualität? Worin bestünde die Qualität je ihres Daseins? – Gerechte Anteile Trockenheit beziehungsweise Feuchtigkeit für die Moose! Nicht tief im Kalenderjahr nochmals schwer belastenden Schneefall, der die Baumkronen zerlumpt! Für Eichhörnchen Tannzapfenfülle im Spätherbst – und ein bleibend gutes Gedächtnis für die diversen Vorrats-Verstecke! Rund um die Insel Island Schonmeilen für Fischgewässer – und Rücksicht, viel lieber noch Dosierung der Touristen-Meute … Ich bin – Sie lesen es – gegen Bausch-Wörter, Imponier-Vokabular, Worthülsen voreingenommen!

Liebeserklärung

Eine Erklärung wird dann in Betracht gezogen, wenn es Klarheit zu schaffen gilt. Sie gibt Aufschluss über einen Sachverhalt, zu dem Fragen offen waren. Eine Erklärung richtet sich demnach an einen Menschen, der im Ungewissen war, ja, den möglicherweise gar Zweifel plagten. Manchmal lassen es die Umstände angezeigt erscheinen, dass auch Liebe erklärt sein will. Man spricht dann von einer Liebeserklärung. In meinem Empfinden allerdings mangelt es der Liebe, die erst erklärt werden muss, an einem wesentlichen Element: an der unerlässlichen Bedingungslosigkeit nämlich, die keiner Erklärungen bedarf. Wer also glaubt, sich über eine Liebeserklärung verständlich machen zu müssen, nimmt in Kauf, dass Worte den Gehalt dieser Liebe allenfalls schmälern könnten, dass sie sozusagen auf eine Ebene der Sachlichkeit verlagert wird und so des wunderbar Unerklärlichen verlustig geht. Ich bin der Ansicht, Liebe bedürfe keiner Worte, sei nicht erklärbar – sie erkläre sich aus sich selber.