«Das kann nicht wahr sein»!

Den Suizid des eigenen Kindes zu bewältigen zählt zu den härtesten Prüfungen, die das Leben bereithält. Ein betroffenes Elternpaar erzählt.

Kathrin und Bernhard sassen mit ihrer Tochter auf der Terrasse ihrer Ferienwohnung, als das Telefon klingelte. Ihr Sohn sei tot, sagte der Polizeibeamte, eine Mitteilung, die das Leben der Familie in eine Zeit vorher und eine Zeit nachher zerschnitten hat. Christian, ihr 23-jähriger Sohn habe sich suizidiert. Wie in Trance und unfähig, das Geschehen irgendwie einordnen zu können, packte die Familie ihre Sachen zusammen und fuhr zurück in die Ostschweiz. Kathrin erinnert sich, dass ein Gedanke fast unmittelbar nach dem Anruf da war: «Ich will Christian sehen, ich muss zu Christian». Zuhause angekommen teilten sie der älteren Tochter und den engsten Verwandten das Unfassbare mit, selber gefangen im Gedanken, dass das alles gar nicht wahr sein könne. Unmittelbar nach ihrer Ankunft bekamen sie von der Polizei die Adresse einer Beratungsstelle, diese professionelle Begleitung half der Familie, die ersten Tage einigermassen durchzustehen.

Den Abschied gestalten
Suizid ist die häufigste Todesursache bei Jugendlichen zwischen 15 und 25 Jahren. Die Schweiz gehört – diese traurige Tatsache dringt langsam ins Bewusstsein der Menschen – weltweit zu den Ländern mit der höchsten Suizidrate. 4 bis 5 Prozent der Jugendlichen zwischen 15 und 19 Jahren hierzulande begehen einen oder mehrere Suizidversuche. Fachleute nennen verschiedene auslösende Faktoren, die sowohl auf der kollektiven wie auch auf der individuellen Ebene liegen. Die Frage nach dem «warum», nach Erklärungen und Motiven ist für die Eltern eine der bohrendsten Fragen überhaupt – auch für Kathrin und Bernhard. Und bis heute gibt es keine gültige Antwort, weshalb Christian nicht mehr leben wollte; ausser dem Satz «Ich habe euch lieb» hinterliess er keine Erklärungen.
Nachdem sie die wichtigsten Formalitäten erledigt hatten, begaben sich Kathrin und Bernhard auf einen langen Spaziergang. Etwas, das dem Paar bis heute wichtig geblieben ist: sich in der gemeinsamen Bewegung lösen von quälend kreisenden Gedanken und im Schweigen oder miteinander reden etwas Ruhe finden. So gross die Verstörung auch war: die Mutter drängte darauf, Christian noch einmal zu sehen und bewusst von ihm Abschied zu nehmen. Im Rückblick sagt der Vater, er sei froh, dass seine Frau darauf bestanden habe. Es sei ein schwerer Gang gewesen und doch habe ihm das Zeremoniell geholfen. Die Eltern und die beiden Schwestern schrieben Abschiedsbriefe und Gedichte für Christian. Sie brachten ihm diese zusammen mit Fotografien in den Andachtsraum, wo er aufgebahrt war. Ein allerletztes Mal im selben Raum sein, den Sohn und Bruder noch einmal berühren, Ungesagtes sagen – adieu sagen.

Fürsorglicher Umgang
Die Familie wollte nicht nur den eigenen Abschied bewusst gestalten, sondern auch in einem öffentlichen Abschied den Gefühlen, der Verletzung und Ohnmacht Ausdruck geben. «Wir haben nicht verschwiegen, dass sich Christian suizidiert hat», sagt Kathrin und «wir wollten allen, die unseren Sohn gekannt haben, die Möglichkeit geben, sich zu verabschieden». Die eigengestaltete Beerdigung sollte ein letztes Geschenk für Christian sein und ein Gegenpunkt zum stummen, fast spurlosen Verschwinden eines Menschen aus dem Leben all jener, die ihn gekannt haben. Der Vater las den Abschiedsbrief, den er seinem Sohn mitgegeben hatte und berührte damit die in grosser Zahl erschienenen Bekannten, Verwandten, Christians Schul- und Arbeitskollegen und die Leute aus dem Dorf, die ihre Trauer und Solidarität kundtaten. Nach der Feier luden die Eltern alle Trauergäste zu einem Apéro ein, eine Gelegenheit, miteinander zu sprechen, Menschen zu erleben, in denen auch ein Stück Erinnerung an Christian weiterlebt. Zutiefst eindrücklich seien diese Stunden des Zusammenseins gewesen – die Menschen, jung und alt, irgendwie aufgerüttelt und betroffen. «Ja, aufrütteln wollten wir auch», sagt Bernhard, «und zwar die Eltern und die Jugendlichen. Unser Sohn hat uns keine Chance mehr gegeben, ihn auf irgendeine Art und Weise zu unterstützen. Ich wollte, dass die Leute ahnen, was das bedeutet – so zu gehen, für beide Seiten.» Einen fürsorglichen Umgang miteinander pflegen, gutes Zuhören und keine Scheu, fachliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, dafür plädieren Kathrin und Bernhard heute. Sie tun dies und sehen es als eine Hinterlassenschaft ihres Sohnes, denn: «Ein Suizid bringt das Leben aller beteiligten Menschen aus der Bahn, zieht sehr weite Kreise».

Unterschiedlich trauern
Nach der Beerdigung fuhren die Eltern aus dem Dorf weg. Die Stille kam und damit konnte ungehindert einbrechen, was vorher von Aktivitäten teilweise überdeckt war. Eine grenzenlose Trauer, ein schwarzes Loch mit einem Sog, von dem Kathrin sagt, dass sie sich oft gewünscht habe, dort zu sein, wo ihr Sohn jetzt sei. Die Eltern erlebten die Hilflosigkeit einiger Leute, «es kam vor, dass jemand die Strassenseite wechselte, um uns nicht zu begegnen». Das schmerzte, auch wenn Kathrin die Wortlosigkeit angesichts dieser Ungeheuerlichkeit gut verstehen kann. «Ein Händedruck, eine stumme Umarmung sagen ja oft mindestens so viel wie Worte», fügt sie an. Wieder zuhause begann ein Alltag, aus dem sie ohne Vorwarnung geschleudert worden waren und in den sie sich als einzelne Menschen erst wieder hinein tasten mussten. Während Bernhard in den ersten vier Monaten fast täglich in eine dem Arbeitsplatz nahe gelegene Kirche sass und «dort auch betete», besuchte Kathrin das Grab des Sohnes über ein Jahr lang täglich. «Ich brauchte das einfach – so bei ihm sein und Zwiesprache halten». Untersuchungen besagen, dass sich Paare die ein Kind verloren haben, häufiger trennen als andere. Kathrin und Bernhard haben die je unterschiedliche Art zu trauern akzeptiert. Heute, rund zwei Jahre nach dem Suizid ihres Sohnes sagen sie, dass sie das Ganze miteinander getragen hätten, «wir haben uns gegenseitig ergänzt». Für Bernhard, der die meisten organisatorischen Sachen übernommen hatte, war irgendwann klar, dass «es so ist wie es ist». Kathrin durchlebte Phasen, in denen sie einigermassen gut leben konnte und solche, in denen ihr die Trauer fast den Lebensatem nahm. Wut drängte an die Oberfläche, Wut über eine unveränderliche Tat, die ungefragt ihr Leben für immer verändert hat und zu der immer Fragen offen bleiben werden. Kraft fand sie immer wieder durch ihren Partner, die beiden Töchter und Menschen, die ihr nahe stehen. Auch die begleitende Therapie war ihr eine Stütze. Irgendwann gönnte sie sich ganz alleine eine längere Reise und nach der Rückkehr war ihr Entschluss gereift, eine neue Berufsausbildung in Angriff zu nehmen.

Trauer als Chance
Bernhard und Kathrin sehen nach dunkler Zeit wieder einen Streifen Licht am Horizont. Sie haben in dieser schmerzlichen Zeit emotionale Nähe und Wärme bekommen und ein neues Sehen für Dinge, die ihr Leben bereichern. «Auch wenn es Tage gibt, an denen es mich noch immer schier zerreisst: ich möchte Christians Stimme hören, sein Lachen und ihn in die Arme nehmen», sagt Kathrin und dass sie seinen Schritt wohl nie verstehen wird, aber inzwischen akzeptiert. «Nur wenn ich ihn loslasse, finden wir beide Ruhe». Geblieben ist das leise Zusammenzucken, wenn das Telefon läutet, die Sorge umeinander und um die Töchter; geblieben sind auch die Auszeiten, die sich das Paar regelmässig gönnt. Und Christian, der weiterlebt in den Erinnerungen und Kathrin die glaubt, ihren Sohn irgendwann und irgendwie wiederzusehen.

*alle Namen geändert

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Kontaktstelle für Selbsthilfegruppen, St. Gallen
Tel. 071 222 22 63

Buchtipp
Warum konnten wir dich nicht halten?
Dioda, Carin und Gomez Tina
Kreuz Verlag, 1999

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