Im November 1995 erklärte die UNESCO auf Antrag von Spanien den 23. April zum Welttag des Buches. Doch hat das Buch überhaupt eine Zukunft im Zeitalter der Network-Generation?
Die Menschen sind auf den Strassen, essen und trinken, Musikgruppen spielen und überall stehen Bücherstände, an denen geblättert und gekauft wird. Kein hiesiges Szenario, der Tag des Buches hat in der Schweiz keine grosse Resonanz. Ganz anders in Barcelona, wo am Namenstag des Volksheiligen Sant Jordi (Sankt Georg) ein richtiges Volksfest stattfindet. Findige Buchhändler lancierten im Jahre 1926 die Idee, sich an diesem Tag nicht nur wie bisher Rosen sondern eben auch Bücher zu schenken. So sollen 1995 an einem einzigen Tag rund vier Millionen Bücher verschenkt worden sein. Sie, die Bücher und das Lesen, stehen auch in den Tagen vor und nach dem 23. April im Blickpunkt, Bücherfeste und Lesefestivals sollen neugierig machen und die Leselust anregen.
Multimedia-Generation
Doch was soll dieser Tag hier bewirken, wo Abgesänge gehalten werden auf das Medium Buch, das seitens der elektronischen Massenmedien gewichtige Konkurrenz bekommen hat und wo sich Computerfreaks und Medienmuffel gegenüber zu stehen scheinen? Wo surfen, samplen, switchen, zoomen und scannen nicht so ganz zur leicht angestaubten Zunft der Leser-/innen passen wollen? Geschieht nun dem Buch das, was auch schon dem Radio oder bei der Einführung des Fernsehens dem Kino vorausgesagt wurde? Kaum, sagen Medienforscher und eigene Erfahrungen im Umfeld zeigen ähnliches. Die üblichen Untergangstheorien haben sich bisher bei keinem Medium bestätigt. Das Buch hat zwar nicht mehr Wissens- oder Statusmonopol, es ist eines von vielen akzeptierten Medien zur Unterhaltung, Information oder Kommunikation. Das Buch und die Printmedien insgesamt rücken mehr in die Nischen der freien Zeit, lineares Lesen eines Textes von vorne nach hinten ist nicht mehr die Regel. Informationen werden nur mehr selten in Büchern gesucht, da gibt es im Netz meist schnellere und effizientere Möglichkeiten. So ist wohl das Ende der Telefonbücher nur eine Frage der Zeit und kaum jemand wird einen dicken Fahrplan konsultieren wollen, wenn er oder sie von Herisau nach Montézillon fahren will. Und ein ähnliches Schicksal blüht wohl den meisten Nachschlagewerken.
Das Buch bleibt wichtig
Das Buch jedoch hat andere Wirkmöglichkeiten und wird auch in Zukunft einen wichtigen Stellenwert einnehmen: als Medium zur persönlichen Vertiefung in fremde Lebenswelten und Erfahrungen; als Ort, in dem ich Formloses aus der eigenen Innenwelt in Worte gekleidet finde oder als zeitweises Aufgehen in Geschichte oder Fiktion. Die uralten Rätsel und Widersprüche des Menschseins stellen sich unverändert und die Fragen woher-wozu-wohin finden in der Literatur Muster, Bilder und Entwürfe die mithelfen, das eigene Leben auszuhalten, zu begreifen und zu gestalten. Ich werde das zeitlebens lieben (ja, lieben!): eine neue Formulierung, ein unbekanntes Wort, eine gelungene Metapher, eine Geschichte, die mich in ihren Bann zieht oder ein besonders schön gestaltetes Buch. Ich werde Taschenbücher lesen und bibliophile Ausgaben mit besonderem Druck und Papier hüten, gebundene Ausgaben kaufen und mich in der Bibliothek umsehen. Und ich werde mich mit meiner Nachbarin weiter per Mail über Leseeindrücke unterhalten, sie per Kurzmitteilung zu einem Kaffee einladen und dabei Bücher tauschen, genau so wie ich mich im Netz über Neuerscheinungen informiere, Tageszeitungen quer lese und alle paar Wochen an einem Club teilnehme, in dem über gemeinsam gelesene Bücher gesprochen wird. Nein, es wird nicht untergehen, das Buch, es wird überleben, weil Lesen eine selbstbestimmte Tätigkeit ist; weil ich als Leserin meine eigenen Bilder entwickeln kann; weil das, was zwischen den Zeilen liegt, immer individuell verstanden werden kann und weil dem Buch eine sinnliche Komponente innewohnt. Und nicht zuletzt wird das Medium Buch überleben, weil da auch ein Markt ist, vom Verlag bis zur versierten Kritikerin, von den Geschichten über die Schreibenden bis zur Auszeichnung für den Buchgestalter.
Lesen als Grundlage
Wir sollten es feiern, das Fest des Buches und dabei den einen oder andern Gedanken daran verschwenden, wie Lesen als unverzichtbare Basistechnik zur vielfältigen Mediennutzung unterstützt und gefördert werden kann. Nur wer wirklich lesen und wirklich verstehen kann, hat Chancen am gesellschaftlichen Kommunikationsprozess teilzunehmen. Die UNESCO warnt in diesem Zusammenhang vor einer Medienzweiklassengesellschaft, die durch Leser/Mediennutzer und Analphabeten markiert wird. Machen wir uns nichts vor, dabei geht es nicht nur um eine Nord-Süd-Schere, auch hierzulande sind junge und ältere Menschen angesichts der verschriftlichten Informationswelt überfordert. Und wir tun gut daran, diesem Missstand entsprechend zu begegnen, denn Lesekompetenz und Medienkompetenz sind nicht voneinander zu trennen. Wer Medien selektiv nutzen will, muss lesen (können) und wer heute an aktuelle Texte und Informationen will, muss sich der neuen Medien bedienen. Die Ohnmacht jener, die geschriebene Sprache nicht entschlüsseln können, ist gefährlich und sollte Ansporn sein, der Lesekompetenz Aufmerksamkeit zu schenken und sie im Diskurs über die Einführung einer zweiten und dritten Fremdsprache nicht zu vergessen.