Archiv der Kategorie: Gedichte

Das Leben nicht verstehen

Biebrza-Flusstal, Ostpolen 2018

Hier soll wieder ab und zu eine Wortmeldung sichtbar werden, die Lyrikleserin kommt nicht umhin, mit einem Gedicht ins noch junge Jahr zu starten:

Du musst das Leben nicht verstehen

Du musst das Leben nicht verstehen,
dann wird es werden wie ein Fest.
Und lass dir jeden Tag geschehen
so wie ein Kind im Weitergehen
von jedem Wehen
sich viele Blüten schenken lässt.

Sie aufzusammeln und zu sparen,
das kommt dem Kind nicht in den Sinn.
Es löst sie leise aus den Haaren,
drin sie so gern gefangen waren,
und hält den lieben jungen Jahren
nach neuen seine Hände hin.

Rainer Marika Rilke

Land der verlorenen Zeit

In mein Herz weht nun ein frischer Wind
aus jenem weit entfernten Land.
Wo sind die blauen Hügel, geliebt als Kind,
wo Türme und Farmen, die ich gekannt?
Es ist das Land der verlorenen Zeit,
so strahlend rein wie zu Beginn.
Die frohen Wege lief ich weit und komme nie wieder dort hin.

A.E. Housman in: „A Shropshire Lad“

Losung

Wintertage rufen nach einer alten Liebe, einer die bleibt – über den Lebensabschnitt hinaus, mitgeht und mitkommt, treu – wenn die Liebende andere Wege geht, in fremden Büchern schwelgt, um dann, an Tagen wie heute, beim Anblick der Hügeldünen wieder an ihn zu denken, an ihn und den andern der Beiden – sie mag beide sehr und das geht ohne Eifersucht oder Streit, weil sie, die Haiku-Dichter längst anderswo sind, fern und der Lesenden doch so nah.

Issa (1763-1827)
schrieb

Ein Wolf! – das sieht man
dieser Losung an. – Die Kälte
wird noch beissender…

Vom anderen wird zu lesen sein. Später.

 

Auftauchen – wenn auch nur kurz

Neunundzwanzig Tage hat sich (nur) hier nichts getan, im Leben, im richtigen, war ganz viel zu tun – Neues, Unbekanntes, Spannendes und alles in XL-Portionen. Das Neue wird all-täglicher, vertrauter und gehört immer mehr dazu. Frau richtet sich ein, nicht nur im neuen Büro und mit neuen Computerprogrammen. Der Anfangszauber weicht der realistischen Sicht, die Brillen sind geputzt und abends darf auch wieder gelesen werden. Ein Haiku, das uralte Ausloten der Möglichkeiten im vorgegebenen Korsett – eines von Issa, einem der berühmtesten Haikudichter Japans, geschrieben im Jahre 1819:

Issa beschreibt hier den Kummer einer Witwe, die alleine in einer Berghütte leben muss

Im eigenen Dorf
ist die Arbeit getan – wohin führt mich
nun mein Pflanzerhut?

nachkommen der Märzin

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sind DU/die farbdünung
wasser ums beet der seerosen

ich wandre dich aus
wie das blinde auge
des leuchtturms
zuvorkommt der not

ich will die sieben hügel
die küste rufen
ins weisse laken
bevor die sonne nachterstirbt

sieh die rote stadt
ist unsere geduld
nicht mehr

José F.A. Oliver in: Austernfischer marinero Vogelfrau. Verlag Das Arabische Buch 1997, Berlin.
Mit Holzschnitten von Cristian Korn

Nach einem Norden

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Nach einem Norden, sagen die Weisen,
genügt es, sich auf den Weg zu machen,
ohne ihn zu erreichen: der Reisen
Magie besteht in ihrem Verlauf.
nein, das Ziel ist nicht von Bedeutung;
es herbeizusehnen, ist Tollheit,
und es zu erreichen, wäre eine Häutung;
wer weiss, alleine zur Schwermut.
Denn das ist unsere Täuschung:
uns einen Lebenssinn zu geben,
der den Tod nicht beim Namen nennt,
sondern ihm artig schmeichelt.

Donata Berra in: Zwischen Erde und Himmel, Waldgut Verlag.

An meinen Berg

An meinen Berg
Ein jeder Stein hat
Seinen Sitz
An deinem Körper

Was mach ich nur
Wenn ich einmal
In den Falten
Der Geröllhänge
Keinen Platz mehr finde?

Werde mich wohl
Im Wind auflösen
Und dich umheulen
Mit den hungrigen Wölfen
Und den entlassenen Gräsern
Eines Sommers

Galsan Tschinag
aus: Wolkenhunde. Waldgut Verlag

 

Galsan Tschinag

Durchblätternd
Das Familienalbum
Mit den verblichenen Fotos
Erkennst du:

Pilz bist du gewesen
Zum Baum gewachsen
Und nun unterwegs
Zum Fels

Nichts kann dich
Von der Erde lösen
Der du entwachsen
Die Inschriften der Bergsteppe
Schimmern in dir

Unterwegs zum Fels
Ist dein Heimweg

in: Wolkenhunde, Waldgut Verlag