Italienische Wochen

Es soll Menschen geben, die mehr oder weniger freiwillig so genannte Diäten einhalten. Ein solcher Mensch ist mir kürzlich begegnet. Ich belasse diese Person in ihrer Anonymität, doch was sie erzählte, schien mir bemerkenswert. Nicht die Art der Kur, da scheinen sich ja einschlägige Magazine gegenseitig zu überbieten. Sie schwärmen von italienischen oder asiatischen Wochen und verschweigen dabei, dass wer sich darauf einlässt, im Zeitraum von zwei Wochen auf ein (1!) vollständiges Menü kommt, weil am ersten Tag die Hälfte der ersten Vorspeise, am zweiten die verbliebene Hälfte, am dritten einen Hauch Pasta und so weiter erlaubt sind. Irgendwo dazwischen gibt es eine Schrumpfkugel Zitronensorbet (zum Mittagessen!), bis Sie dann am vierzehnten Tag an der Ecke eines Amaretti knabbern dürfen. Über die halbe sizilianische Pampelmuse zum Frühstück und das Grissini als Nachtessen will ich keine Worte verlieren. Ich stelle es mir einfach hart vor. Sehr hart sogar.

Doch eben, es soll Phänomene geben. Möglicherweise gibt es nämlich in einer solch garstigen Lebensphase wie die einer Hungerkur so etwas wie eine gesteigerte Imaginationsfähigkeit. Energien, die früher zur Verarbeitung lukullischer Genüsse benötigt wurden, flottieren plötzlich frei und entwickeln eine kreative Energie in der Ausarbeitung differenzierter Bilder. Oder anders, die Speisen liegen nun statt im Magen im Kopf. Und das, so stelle ich mir vor, ist nicht nichts. Ich zum Beispiel habe eine recht gute Vorstellungskraft und kann aufgrund der Zutaten eines Rezeptes durchaus eine Ahnung entwickeln, wie das Gericht zubereitet schmecken könnte.

Die eingangs erwähnte Person nun erzählte mir von einem Geschenk – es handelte sich um ein exquisites Schoggitruffes – und von der Unmöglichkeit, diese Delikatesse im Rahmen der zu absolvierenden Diät zu verspeisen. Dazu muss ich sagen, dass ich von dieser Person weiss, dass sie den Dessertteil der Speisekarte meist als ersten studiert. Obwohl sie dabei stets sagt, die wirkliche Qualität eines Lokals spiegle sich im Dessertangebot und sie prüfe dieses nur aus dem Grund, um so Wirte von begnadeten Köchen zu unterscheiden, kann ich ihr nicht ganz glauben. Ich glaube viel eher, sie ist ganz einfach verschleckt. Aber das ist nicht meine Sache und deshalb habe ich geschwiegen und fragte mit dem nötigen Ernst, wie sie denn nun diese Praline umschiffen wolle. Sie werde die süsse Kugel so lange aufbewahren, bis diese Zeit vorbei sei, antwortete die Person und dabei bekamen ihre Augen Glanz. «Weißt du», fuhr sie fort, «ich habe mir das ganz genau überlegt. Wenn es soweit ist, möchte ich sie wirklich geniessen. Ich werde die Praline mit dem Trüffelschaber in hauchdünne Scheiben raspeln.» Irgendwie hatte ich in diesem Moment den Eindruck, in meinem Mund sammle sich Speichel. Ich schluckte und nickte verständnisvoll. Die Person, mir schien übrigens, ihre Augen lägen etwas tiefer in den Höhlen als sonst, die Person also fuhr fort, dass die Scheibchen mindestens den Anforderungen an Strudelteig zu genügen hätten, die da wären, dass man durch den Teig hindurch die Zeitung lesen könne. «Ja, das kenne ich», warf ich ein und ohne meine Bemerkung irgendwie zu kommentieren, fuhr die Person fort, in ihrem fernen Glück zu schwelgen. Natürlich werde sie auch nicht das kleinste Stückchen dieser Kostbarkeit verlieren wollen, deshalb werde sie den Arbeitsplatz mit einer Gaze auslegen, mit der sie auch die kleinsten Teilchen auffangen könne. Als sie den Ausdruck «schuppenartige Wegfliegpartikel» ins Spiel brachte, dachte ich an die Brotbrösmeli, die im Bauch meines Staubsaugers lagern. «Alles, verstehst du, ich will wirklich alles geniessen, keinen Millimeter vergeuden.» «Sicher», sagte ich, «das kann ich gut verstehen» und noch während ich sprach, fiel mir die Person ins Wort und erklärte mir, dass sie mit den Schoggibrosamen eine Farce machen wolle. «Aha, eine Füllung», sagte ich und sah, wie sich ihre Wangen mit einer leichten Röte überzogen. «Ja, ich werde eine Beere halbieren und füllen», und als sie das sagte, fielen mir Heidelbeeren und der Fuchsbandwurm ein und dummerweise sprach ich es auch aus. Ich hätte das besser nicht gesagt, denn jetzt flackerten die Augen der Person und ich erfuhr eine Unterweisung, in der die Rede war von regionalen Produkten und von biologischem Landbau und Knospen und irgendwann sprach sie vom Mond und vom richtigen Zeitpunkt der Ernte.

Ich beliess es beim Nicken. Ich lachte auch nicht, als die Person darauf beharrte, dass Beeren, die man füllen wolle, natürlich bei Leermond zu ernten seien, was ja auf der Hand liege, weil die Beere dann eben leerer sei und so-mit mehr Platz für die Füllung hergebe, wobei man sie andererseits für Konfitüren oder Wähen bei Vollmond ernte solle, was aber sowieso jedem halbwegs normalen Menschen einleuchte. Ich schluckte und die Person geriet zunehmend in eine Erregtheit, die mich beunruhigte und angesichts derer ich mir einmal mehr sagte, dass solche Kuren kaum Gutes bewirken können. Und während sie mit einem Beben in der Stimme begann, von ästhetischen Grundsätzen bei der Präsentation ihrer halben, gefüllten Beere zu dozieren und etwas von stringenter Präsenz faselte, beschloss ich innerlich, dass ich mich nie, aber auch gar nie in eine solche Gefahr begeben würde und streckte der Person im Spiegel kurzerhand die Zunge heraus.

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